Kalypsos Liebe zum kalten Seerhein. Chris Inken Soppa
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Der Optimismus dieser Vögel kommt Niks lächerlich vor. Was haben sie davon, am Leben zu bleiben? Das bisschen Fressen und Fortpflanzung, ist es die Anstrengung wert?
Sie hört Schritte im Hausflur. Zeit, aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. In die Küche gehen. Mal wieder ein Buch lesen, Es geht uns gut, von Arno Geiger. Niks ist beeindruckt von der Entschiedenheit dieses Titels. Früher las sie gerne Krimis. Heute mag sie Bücher, deren Handlung im Unbestimmten landet. Scharf umrissene Charaktere wurden unwichtiger zugunsten flüchtiger, kaum festzuhaltender Eindrücke:Annäherungen an die Realität, die nie zu Ende gehen.
Kurz nach Niks’ fünfzigstem Geburtstag setzten die Wechseljahreein; so harsch und gleichzeitig so unwirklich, dass Niks das Gefühl hatte, in einen Traum geraten zu sein. Dabei litt sie nicht einmal unter Depressionen. Es war eher das Gefühl einer ersten Loslösung vom eigenen Körper; eine Ahnung, wie es sein würde, komplett die Kontrolle über ihn zu verlieren. Nie hätte sie geahnt, dass man sogar an den Augenlidern schwitzen kann! Ihre Unterhosen klebten und bekamen ständig Löcher unterm Gummibund, weil sie zu hastig daran zerrte. Nachts wachte sie auf, ergab sich der Hitze, drehte ihre Bettdecke auf die kühlere Seite, um gleich darauf wieder einzuschlafen.
Da hast du aber Glück, sagte Ulla, die vom stundenlangen Wachsein berichtete, von Kamillentee und dösigem Betrachten alter Schwarzweißfilme.
Nein, mit dem Schlafen hatte Niks keine Probleme. Schlimmer waren die unbestimmten Schmerzen. Sie sprangen von Gelenk zu Gelenk und schienen eine trostlose Zukunft zu verheißen. Manchmal betrachtete Niks ihre Hände, deren Fingerknöchel etwas dicker geworden waren. Ringe ließen sich schwerer darüber streifen als früher. Manchmal pochte und knackte es, als hätte sich ein fremdes Wesen in ihren Gelenken eingenistet und wollte nun raus. Sie würde sich daran gewöhnen müssen, ihren Körper anderen zu überantworten: Ärzten, Pflegern, Physiotherapeuten. Ein schrittweises Zurücktreten vom eigenen Ich. Wenn sie daran dachte, war sie überrascht von ihrer eigenen Gelassenheit.
Der Trojaner stellt keinerlei Ansprüche an ihre Kochkünste. Mittags isst er in der Senderkantine und abends schmiert er sich ein Brot. Meist kommt er spät nach Hause. Niks kennt das: Volontäre müssen oft bis zum Abend warten, bis ein Arbeitsplatz frei wird. Der tägliche Verdrängungskampf ist nicht jedermanns Sache. Niks hat Praktikanten erlebt, die nach der ersten Woche heulend abbrachen. Die Unauffälligen leiden am meisten: diejenigen, die für jeden Satz zu lange brauchen, weil das Augenzwinkern, das sie vermitteln wollen, so schwer in Worte zu fassen ist.
Hektor hält sich gut. Sein erster Kurzbericht über die Protestaktion einer regionalen Lokführergewerkschaft wurde vor drei Tagen gesendet. Niks und Hektor saßen im Wohnzimmer, teilten sich eine Piccoloflasche Freixenet und prosteten einander zu, als der Beitrag anmoderiert wurde. Hektors Sätze sind kurz und griffig, seine Radiostimme klingt nasal, durch die Studiotechnik verfremdet. In ihr liegt die unbewusste Eile eines Menschen, der nie zuvor einen Text ins Mikrophon gelesen hat. Er macht noch Fehler, betont Verben, erliegt der süddeutschen Zickzackintonation, die sich zum Satzende hin absenkt. Sein R rutscht zu weit nach hinten, sein aspiriertes S ist zu scharf. Aber er hat Talent.
Niks’ Reaktion enttäuschte ihn. Ich dachte, es wär ganz gut. Der CvD hat es gleich abgenommen.
Es ist dein erster Beitrag, beruhigte Niks. Die meisten Volontäre dürfen ihre Sachen anfangs nicht mal selbst sprechen.
Er hätte sich das nie zugetraut. Dass seine Stimme so voll klingen würde. Dass er in der Lage wäre, das Schnittprogramm zu bedienen. Dass er die Struktur eines Beitrages so schnell erfassen und beim Interview mit aufgeregten Gewerkschaftlern kühlen Kopf behalten würde.
Du stehst ja erst am Anfang. Niks wollte ihm keine Komplimente machen, die sie nicht ernst meinte.
Heute ist Hektor früh zurück. Er hat sich mit zwei anderen Praktikanten im Hallmayer verabredet: gutes, marokkanisches Essen, dazu Bier aus der lokalen Brauerei und Cocktails mit verwegenen Namen wie »Sex im Kuhstall«, »Blond auf Braun« oder »Abspritzer«. Niks hat keine Ahnung, wen so was amüsiert. Die Cocktails sind ebenso kräftig wie das Essen und sollten nicht mehrfach konsumiert werden. Zumindest nicht an einem Abend, warnt sie Hektor. Er steht im Badezimmer und riecht nach After-Shave. Er ist aufgeregt, freundlich, voller Wärme. In seiner Vorfreude umarmt er Niks kurz und erzählt ihr von seinen Kollegen. Von Myra aus Annaberg-Buchholz, die nach dem Studium einen Verlag für ostdeutsche Frauenliteratur gründen will. Von Dierk, dem Intellektuellen, der Theaterautor werden möchte. Für Niks klingen die beiden wie typische Radiopraktikanten mit hochfliegenden Plänen, bereit, die Welt zu verändern, voller Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Zehn, fünfzehn Jahre später werden sie sich wohl ein Häuschen kaufen, eine Familie gründen und alltäglichen Jobs nachgehen. Niks findet es schwierig, den Enthusiasmus aufzubringen, den der Trojaner offenbar für angemessen hält.
Plötzlich hält er inne. Ich finde, du solltest mitkommen.
Niks ist verblüfft. Wärst du nicht lieber allein mit deinen Kollegen?
Ich habe ihnen von dir erzählt. Hektor hebt die Schultern. An der Pinnwand im Nachrichtenstudio hängt ein Bild von dir.
Das freut sie. Es ist fast ein Jahr her, seit sie das letzte Mal ein Mikrophon in der Hand hatte.
Alle sagen, du wärst ein Vollprofi. Dierk und Myra würden sich freuen, dich kennen zu lernen. Im grellen Licht der Badezimmerleuchte wirken Hektors Haare wie frische Silberspäne. Zur Feier des Abends hat er seinen Kapuzenpulli abgelegt und sich in ein frisch gebügeltes, bordeauxrotes Hemd geworfen, das eng über seinen schmalen Hüften sitzt und nicht in die Hose gesteckt werden muss. Auf seinen glatten Handrücken laufen dicke Aderstränge y-förmig zusammen. Seine Schuhe stehen erwartungsvoll glänzend neben der Einangstür. Er hat sie geputzt, als gäbe es nichts Wichtigeres.
Niks zeigt auf ihren schmuddeligen, weißen Fleecepulli. So kann ich nicht mit. Ich muss mich erst umziehen und mir die Wimpern tuschen, sonst traue ich mich neben deinen sauberen Schuhen gar nicht auf die Straße.
Hektor murmelt charmante Worte, die Niks nur teilweise versteht. Jetzt gibt sie sich Mühe vor dem Badezimmerspiegel, ihre faltigen Augenlider hinter dichten, dunklen Wimpern verschwinden zu lassen. Sonst trägt sie kein Make-up, hat sie nie. Sie fährt sich mit dem Kamm durch ihre hellen Haare mit den silbernen Strähnen darin, zieht sich ihre schwarze Kaschmir-Strickjacke mit hohem Kragen über, den sie vor einiger Zeit in einer teuren Boutique erstanden hat, steigt in Jeans und flache Wildlederschuhe.
Hektor sagt nichts, als sie mit ihm vors Haus tritt. Dafür hakt er sich entschlossen bei ihr unter und zieht sie mit sich.
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