Kalypsos Liebe zum kalten Seerhein. Chris Inken Soppa
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Diese Bäume werden jedes Jahr früher gelb. Wenn sie absterben und wir sie weghauen müssen, wäre Ihnen das auch nicht recht, oder? Niks ist uninformiert. Doch der Mann in Orange scheint es ihr nicht übelzunehmen. Er lächelt noch immer.
Sehen Sie. Er startet seinen Motorbläser neu. Damit Sie auch im nächsten Jahr noch Freude daran haben. Die letzten Worte versteht Niks kaum mehr. Der orangefarbene Mann deutet eine Verbeugung an, tritt einen Schritt zur Seite und widmet sich wieder seiner Arbeit. Es verschließt ihr den Mund. Im Lärm trudelnde Blätter setzen sich mitten auf der Straße zu einem langen Streifen ab. In ein paar Minuten wird das Räumfahrzeug kommen und sie holen.
Der Gedanke an Karen und ihren Sohn lastet auf ihr. Sie will ihren Alltag nicht aufgeben, so eintönig er auch sein mag. Vielleicht sollte sie sich einen Hund kaufen und sagen, sie habe es sich anders überlegt. Niks stellt sich den Hund vor, einen blitzgescheiten Jack-Russell-Terrier mit hoher Sprungkraft, der unermüdlich Bälle apportiert und nach Steinen taucht. Sie würde ihn Förster nennen und ihm ein grünes Lodenjäckchen kaufen. In seinen Barthaaren würde er die Jahreszeiten mit nach Hause bringen: getauten Schnee, Blüten und Pollen, Laubfetzen. Sein Schlafplatz wäre im Flur oder in der Küche, und wenn ein Fremder unangemeldet einträte, würde er bellen.
Doch dann denkt Niks an Häufchen und schwarze Plastiktüten und muss lachen. Es ist zu demütigend, öffentlich hinter einem Hund herzuräumen. Soll sie sich das antun, bloß um einen jungen Mann loszuwerden, der garantiert sehr bald eine eigene Bleibe finden wird? Vielleicht hat sie Glück, und er ist einer von denen, die sich tagein tagaus hinter ihren Rechner verkriechen. Denn was sollte sie mit ihm reden? Wird Karen erwarten, dass sie ihm abends etwas zu Essen macht? Niks genießt ihre einsamen Mahlzeiten, die sie manchmal direkt aus dem Topf isst, den Löffel in der einen und ein Buch in der anderen Hand. Gemeinsame Mahlzeiten mag sie nicht. Sich mit anderen zu unterhalten und dabei verschmierte Münder und verklebte Zähne zu sehen, hat ihr schon in jungen Jahren den Appetit geraubt. Auch sie selbst bietet keinen schönen Anblick mehr. Nach jedem Bissen muss sie ihre Zähne heimlich mit der Zunge überprüfen, das gebietet der Anstand.
Sie nimmt sich vor, den Jungen zur Selbstständigkeit zu ermuntern und ihm die Küche zu überlassen. Vorausgesetzt, er macht sie hinterher wieder sauber. Hektor. Von Achill getötet und drei Mal um die Stadt geschleift. Was für eine Grausamkeit!
Niks tritt in ihr Gästezimmer. Ein bordeauxfarbenes Ausziehsofa, weiße Wände, an den hohen Fenstern Gardinen mit winzigen Blumenmustern. Kein Teppich, nur ein lackierter Dielenfußboden. Ein Biedermeiersekretär, den Niks vor Jahren in einem Auktionshaus gefunden hat, und an dem sie ihre immer kümmerlicher werdende Briefpost erledigt. In einem Fach steht ein Portraitfoto ihrer Mutter, in einem anderen ein buntes Bild von Karen und Nadine, Arm in Arm vor der untergehenden Sonne, verwuschelte Haare, bis in die Spitzen erleuchtet. Zwei erwartungsvolle, junge Frauen, in deren Blicken die ersten Zweifel bereits aufscheinen. Ein Einundzwanzigjähriger würde in diesem Zimmer lächerlich wirken. Sie stellt sich ihn vor, wie er mit schweren Schritten über den Dielenboden geht, sich auf den zierlichen Holzstuhl wirft, dessen Sitzfläche Niks erst kürzlich mit einem blau-grauen Streifenstoff hat beziehen lassen. Wenn er nun aggressiv ist, Drogen nimmt, seine wodkaverschwitzten, lärmenden Kumpels nachts um drei mit auf die Bude nimmt und alles kaputt haut? Was dann? Karen wird ihren Sohn in Schutz nehmen und Niks vorwerfen, sie sei viel zu empfindlich, zu verschroben, zu allein.
In der Nacht wacht sie auf, weil ihr wieder einmal einfällt, wie alt sie ist, wie wenig Zeit ihr noch bleibt. Der Gedanke überfällt sie im Halbschlaf. Ein weiterer Tag will zornig von ihr wissen, warum sie ihn so vergeudet hat. Die Angst vor dem unbekannten, endgültigen Datum lässt sie nicht wieder einschlafen. Sie denkt an ihren Phantasiehund Förster und beneidet ihn um seine Ahnungslosigkeit. Hunde träumen nicht vom Tod. Hunde müssen sich auch keine Götter ausdenken. Ab und zu kommen Niks nächtliche Tränen, die stumm und unbemerkt in ihr Kopfkissen sickern. Ein ganzes Leben war sie allein, erst jetzt fühlt sie sich einsam. Falls sie demnächst sterben sollte, wird der junge Mann wenigstens den Bestatter rufen können. Sie lacht verhalten, mit Tränen im Mundwinkel, und schläft wieder ein.
Nun steht sie auf ihrem wettergeschützten Balkon und wartet auf Karen und deren Sohn. Feiner Nieselregen knistert auf den vertrockneten Kastanienblättern, die auf dem Holzrost liegen wie himmelwärts gekrümmte, gelbe Hände. Niks schließt die Balkontür, geht durch den Flur, rückt eine Blumenvase zurecht, schenkt sich ein Lächeln durch den Garderobenspiegel. Das Gästezimmer ist blitzsauber, gerade hat sie es noch einmal kontrolliert. Absurde Vorstellung, dass hier ein Einundzwanzigjähriger leben soll! Er wird laut auflachen und seiner Mutter hinter Niks’ Rücken vielsagende Blicke zuwerfen. Karen wird wütend sein, sich aber beherrschen. Sie werden zusammen Kaffee trinken und den Kuchen essen, den Niks vorhin vom Bäcker geholt hat. Danach werden sie sich für immer voneinander verabschieden.
Es klingelt. Niks geht zur Tür, drückt auf den Summer und hört Stimmen. Die von Karen klingt ernst und bestimmt. Der Junge hat den weichen Ton junger Studenten, deren lässige Wortwahl von einer überkorrekten Aussprache konterkariert wird. Zwei Hände rutschen auf dem Treppengeländer hintereinander her nach oben. Niks sieht einen roten Ärmelaufschlag, Karens Hand. Die Finger des Jungen werden von einem schwarzen Bündchen fast verdeckt.
Dann steht Karen vor ihr. Ihr dunkles Haar zeigt graue Strähnen, um den Bauch ist sie etwas voller geworden, doch die gespannte Haltung ihrer schmalen Arme und Beine verrät die einstige Tänzerin.
Karen lächelt. Hallo Niks. Das ist mein Sohn Hektor.
Niks weiß nicht, ob sie erst Karen oder den Sohn umarmen soll. Herzlich willkommen, tretet ein. Sie drückt Karen ein ungeschicktes Küsschen auf die Backe. Über Karens Schulter hinweg sieht sie dem Jungen ins Gesicht. Hektor, Sohn des Priamos. Der Trojaner. Ist das nicht eigentlich eine Kondom-Marke? Er hat strubbelige, hellblonde Haare, ungewöhnlich dunkle Augen und lächelt verlegen.
Hallo, Hektor, sagt Niks. Wie schön, Sie zu sehen.
Es folgt ein längeres Trara um die Aufbewahrung von Karens rotem Mantel. Der Nieselregen hat Mutter und Sohn völlig überrascht, und Karen befürchtet, das Mantelfutter könne einlaufen, wenn man es nicht sofort ins Warme bringt. Niks holt einen breiten Kaufhausbügel, um den Mantel im Bad aufzuhängen.
Ist es auch warm genug da drin, ruft Karen. Ich weiß doch, wie spartanisch du lebst. Aber wenn Hektor jetzt hier ist, wirst du hoffentlich nicht an der Heizung sparen.
Kopfschüttelnd hängt Niks den Mantel über den Bügel. Dem Jungen ist das alles deutlich peinlich. Er zerrt am Bündchenärmel seines feuchten Parkas.
Sie können ihn dort an die Garderobe tun. Niks zeigt auf einen Haken.
Die beiden sind mit leeren Händen gekommen; Hektors Gepäck liegt vermutlich noch im Auto.
Aufmerksam sieht sich Karen in der Wohnung um. Du hast ja ein modernes Wohnzimmersofa. Schön, wenn keine Kinder da sind. Die würden so einen weißen Bezug ganz schnell dreckig machen.
Ich bin mir sicher, Hektor macht keine Bezüge mehr dreckig, sagt Niks.
Karen wirft ihr einen todernsten Blick zu, während der Junge einen verklemmten Gluckser ausstößt und sich die schwarze Kapuze über den Kopf zieht. Ha ha, sagt Karen. Dein Humor war früher mal besser.
Niks möchte Karen missverstehen und nickt. Du hast recht. Früher war so vieles besser. Erinnerst du dich noch an unsere schönen Spaziergänge am See und im Mainauwald? Wie still es damals noch war. Heute haben sie überall diese Laubbläser.
Aus dem Gluckser des Jungen ist ein unwilliges Schnaufen geworden. Früher, früher, murrt er unter seiner Kapuze hervor, dann attackiert er seine Mutter: