Kalypsos Liebe zum kalten Seerhein. Chris Inken Soppa

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Kalypsos Liebe zum kalten Seerhein - Chris Inken Soppa

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über den Badezimmerständer, bringt den Wohnzimmerofen zum Brennen und lässt sich seufzend mit einer Tasse Tee an ihrem Küchentisch nieder. Die Wohlfühlkälte in ihrem Körper wirkt wie eine aufputschende Droge, von der sie nur sparsam kosten darf.

      In ihrer Wohnung ist es still, ganz anders als in der Kindheit bei ihren Großtanten. Das Ticktack der Standuhren musste damals in den Abendstunden gestoppt werden, damit ein kleines Mädchen namens Nikola Berger ruhig schlafen konnte. Bei Niks sind heute alle Uhren stumm, Radio und Fernseher ausgeschaltet, Fenster und Türen fest geschlossen. Als es klingelt, zuckt sie zusammen. Öffnet nur zögernd.

      Wie eine bunte Woge platzt ihre alte Freundin Ulla Laurenz ins Zimmer: plumpe Glieder, viel Stoff, eine wuchtige Erscheinung, die schwer an sich selbst trägt. Sie runzelt die Stirn. Warst du etwa wieder im Seerhein baden?

      Niks nickt. Komm doch rein.

      Ulla zieht sich umständlich die Schuhe aus. Dein Herz wird dir das noch mal heimzahlen.

      Kannst sie ruhig anlassen bei mir.

      Ulla ächzt ein wenig, während sie sich schwankend auf den linken Fuß stellt, um den rechten Schuh von sich zu wuchten. Überall heißt es doch, wir sollten wieder barfuß gehen.

      Niks schließt die Tür. Aber nur mit ärztlichem Attest. Möchtest du Tee?

      Zimperlich lässt sich Ulla auf einem Küchenstuhl nieder. Sie bewegt ihre Zehen, als fürchtete sie, etwas Gefährliches könne sich von dort auf ihrem ganzen Körper ausbreiten. Es ist nicht einfach, in Niks’Vorratsschrank eine Teesorte zu finden, die Ullas Gemütslage entspricht. Doch endlich hält sie eine Tasse dampfenden Honig-Rooibos in den Händen und ist bereit, einen Schokokeks zu sich zu nehmen. Wenigstens Niks weiß, was Ulla sich wünscht. Ihre drei unmöglichen Kinder hingegen haben keine Ahnung. Sie wollen mir eine Donau-Kreuzfahrt zum Geburtstag schenken, stell dir das mal vor! Eine Donau-Kreuzfahrt! Dabei wollte ich immer nach Alaska fahren und kalbende Gletscher sehen. Mein ganzes Leben lang wollte ich das. Mein ganzes Leben lang bin ich von meinen eigenen Kindern verkannt worden.

      Niks ist sich nicht sicher, was man von Kindern zu erwarten hat. Zwischen ihr und ihrer eigenen Mutter gab es nur selten innige Momente. Mit ihrer Ankunft am 30. April 1945 hat Niks das Leben ihrer Mutter zerstört. Welch böses Geschick – und nicht einmal ein Vater dazu, hieß es hinterher in der Verwandtschaft. Angeblich weinte ihre Mutter tagelang, als sie vom Tod des Führers erfuhr. Wir haben uns furchtbar um sie geängstigt, erzählten die Großtanten. Als sie mit dir in den Wehen lag, schrie sie unaufhörlich seinen Namen. Sie war so schwach, hatte so viel Blut verloren, und dann so ein Schlag, davon erholte sie sich nur langsam. Du warst ein greinendes, kümmerliches Ding. Wir hielten es für unsere Pflicht vor dem Herrgott, dich hochzupäppeln, dabei hatten wir ja selbst nichts mehr. Mit unseren letzten Groschen kauften wir Milch, die du sofort wieder ausgespuckt hast. Du warst immer schon starrsinnig, genau wie deine Mutter.

      Ulla schiebt sich den Keks in den Mund, kaut rasch und gründlich. Ihre Enttäuschung untermalt sie mit großer Geste. Einst war Ulla die Frau mit der größten, erotischen Wahlfreiheit an der frisch gegründeten Universität. Kommilitonen beiderlei Geschlechts pflegten ihr heimlich Zettel zuzustecken. Trugen ihr die Bücher. Luden sie zum Essen ein. Ständig wurde sie von neuen Verehrern angesprochen. Und sie erwartete so viel von sich! Während Niks träumerisch abwesend einen Schritt rückwärts trat, war Ulla mittendrin, lebendig, redend, gestikulierend. Voller Andacht las sie die Werke von Marx und Descartes, Freud und Wittgenstein und war gleichzeitig überzeugt, jünger, kühner und weiser zu sein als sie alle. Es schien damals kaum etwas zu geben, das sie sich nicht zugetraut hätte. Doch nach ihrer Affäre mit einem Jahrzehnte älteren Geschichtsprofessor versank Ulla im Traditionellen. Heiratete einen Doktoranden. Statt eines Verlages gründete sie eine Familie. Legte ihre Dissertation unfertig beiseite. Sie hielt sich für zu intelligent, zu sensibel und von neuen Reizen zu schwer ergriffen, um sich nur auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Ein Nervenzusammenbruch folgte, diverse Klinikaufenthalte, schließlich die Diagnose ADS. Sie legte sich ein perfektes Leben zurecht, das sie bis heute nachzuspielen versucht.

      Meine Kinder denken nur an sich selbst, sagt Ulla bitter, und Niks schiebt sich die Ärmel ihres Bademantels über die Ellenbogen. Die Erfrischung, die der Seerhein ihr mitgegeben hat, ist schon längst dahin.

      Die jungen Techniker vor der Glaszelle hatten oft neue Klänge für Niks dabei. Fühlten sie sich geschmeichelt, weil sich eine Frau für ihre Musik interessierte, die so deutlich älter war als sie selbst? Das Meiste blieb für Niks unverständlich. Reihen tonloser Lieder, die häufig so klangen, als ließe sie jemand rückwärts durch einen Kassettenrecorder laufen. Doch manchmal war ein Stück dabei, das ihr die Welt farbiger machte. Dann zog sie sich eine Kopie, um die neu entdeckte Musik stundenlang mit sich herumtragen zu können, und signalisierte den Jungs ihre Dankbarkeit. Darüber schienen sie sich zu freuen.

      Nur wenige Männer fanden einst Gefallen an Niks. Ihr Körper war zu geradlinig, um als »fraulich« bezeichnet zu werden, und sie nickte und lächelte nicht gerne. Männer bevorzugten weiche, runde Frauen wie Kissen, in die sie hineinfallen und in denen sie herumwühlen konnten. Frauen, die sich so zart und kindlich kichernd gaben, als hätte die Realität sie bereits überwältigt.

      Deine Augen sind so klar, sagte Ferdinand an Niks’ einundzwanzigstem Geburtstag. Er war der erste »Bekannte« ihres Lebens. Er brachte ihr mitten im Winter einen Fächer mit. Einen dunkelbraunen, verziert mit stilisierten Abbildungen von Vögeln und Schmetterlingen. Sobald sie ihren Griff ein wenig lockerte, fiel der Fächer in ihrer Hand auseinander. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte, und vergaß ihn im Café.

      Du bist so unaufmerksam, klagte Ferdinand, als müsste ihr Blick ständig auf ihm ruhen, ihm folgen, ihm applaudieren. Manchmal packte er sie am Kinn und zwang ihr Gesicht zu sich. Sie schloss die Augen. Er trug den strengen Seitenscheitel der frühen sechziger Jahre, dazu graue, enge Anzüge und eine dicke Hornbrille. Er redete von Autos, seinem alten VW Karmann, den er durch einen Mercedes ersetzen wollte. Von einer Eigentumswohnung und seinem wichtigen Job bei Siemens. Seine knöcherne Unförmigkeit ging Niks bald auf die Nerven. Sie verstand ihn nicht. Wieso erzählte er ihr das alles, wo er doch nie von Liebe sprach? Oh ja, von Heirat redete er ständig. Vom Verlobungsring, den er ihr kaufen wollte.

      Ihre Frage brachte ihn aus der Fassung.

      Liebe, sagte er mit langen Zähnen, als hätte er etwas Ekliges gegessen. Darüber spricht man nicht. Das macht man bloß.

      Niks ließ es zu, hinten auf dem Rücksitz seines Karmanns. Ferdinand war noch trockener als sie selbst. Zu allem Unglück wurden die beiden von einem berittenen Polizisten entdeckt, der an das Fahrerfenster klopfte und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses mit einer Verwarnung drohte. Das Zittern in Ferdinands Stimme verriet Niks, was in seinem aufgescheuchten Hirn vor sich ging. Eine Anzeige, Entlassung, kein Daimler, keine Eigentumswohnung. Und keine Heirat. Jedenfalls nicht mit ihr. Wenn ich das gewusst hätte, sagte er. Dass du dich so schnell mit jemandem einlässt. Es überraschte Niks, wie erleichtert sie sich fühlte. Einem Mann offen ins Gesicht zu sehen und dabei Nein zu sagen, war eine schwierige Übung für ein gerade erst volljährig gewordenes Fräulein.

      Andere Bekanntschaften folgten, doch immer schien etwas zu stören. Vielleicht lag es an ihrer Stimme, zu durchdringend, zu sonor für eine junge Frau. Erst Jahre später durfte sie ans Radiomikrofon. Du bist ein echter Charakter, sagte ihre Freundin Ulla, und Niks wusste nicht einmal, ob das freundlich gemeint war.

      Morgens fühlt sie sich, als wäre das Alter tatsächlich bei ihr angekommen, einem fremden Organismus gleich, der sich ungefragt und mitleidlos in ihr breitmacht. Tagsüber versucht sie, über ihre sechsundsechzig Jahre zu lachen, sie als bloße Zahl zu verstehen, doch das Aufwachen zeigt ihr brutal, was noch vor ihr liegt. Ihre Knochen scheinen spröde, ihr Gaumen ist schuppig und heiß

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