Kalypsos Liebe zum kalten Seerhein. Chris Inken Soppa
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Читать онлайн книгу Kalypsos Liebe zum kalten Seerhein - Chris Inken Soppa страница 7
Was heißt schon Deal! Du hast so eine mechanistische Ansicht von der Liebe. Hier geht es um Schöpfung. Ulla hustet und putzt sich lautstark die Nase. Niks muss schmunzeln. Auf ihre alten Tage ist Ulla ungemütlich fromm geworden. Nicht schlecht für eine Frau, die über den Tod von Andreas Baader einst bittere Tränen vergoss, weil sie keinen Himmel für ihn wusste.
Das Kind wird dich sicher mögen, beruhigt Niks.
In vielen Filmen und Theaterstücken gehört Bewegung zum Charakter. Menschen rennen oder klettern in unpassender Kluft. Entführte Jungfrauen krabbeln im zerrissenen Hochzeitskleid Mauern hoch. Anwälte, von Gangstern verfolgt, springen im Smoking von einem Hausdach zum nächsten. Romantiker tragen Blumensträuße, lassen sich vom Regen durchnässen und laufen dem nächstbesten Taxi nach, um die verpasste Liebe doch noch einzuholen. Der Blick des Zuschauers landet auf muskulösen Waden unter flatterndem Rocksaum, auf der anmutigen Kurve, die ein Körper beschreibt, wenn er fast aus der Bahn fliegt, auf schlenkernden Armen und wippenden Haaren: winzige Ausschnitte, wie von Blitzlicht gemalt, kürzer und eindringlicher als die träge Wirklichkeit. In Ullas Gesicht schienen die Gefühle einst ineinanderzufließen, beim Reden lief ihre lebhafte Gestik den Betonungen ihrer Stimme entgegen, was einen erst recht dazu brachte, ihr zuzuhören. Ihr Gang war orthopädisch korrekt, er machte sie schnell. Niks erinnert sich, wie sie vor Ulla davonlief. Sie hatte versprochen, nach der Vorlesung am Haupteingang der Universität auf sie zu warten. Doch als sie Ulla männerumringt auf sich zukommen sah, in ihrer Alltagstracht aus reichem Haar und schwarzen, zipfeligen Klamotten, mit ihrer Ledertasche unter dem Arm und dem freien Lachen, das sich hell über die anderen Stimmen erhob, hielt es Niks nicht länger aus. Sie wandte sich ab, stieß so heftig gegen die Drehtür, dass sie davon auf die Straße katapultiert wurde, stürzte beinah, fand ihr Gleichgewicht wieder und rannte in Richtung Parkplatz, bis ihr die Kehle brannte. Doch Ulla hatte keine Mühe, sie einzuholen. An der Schranke packte sie Niks am Kragen und brachte sie unsanft zum Stehen. Sie flocht ihre Finger durch Niks’ Haare und zerrte sie zurück.
Was soll das? Willst du mich hier vor allen Leuten lächerlich machen?
Niks gab keine Antwort. Der Schmerz auf ihrer Kopfhaut erinnerte sie an Ohrfeigen und ausgerissene Strähnen und trieb ihr demütigendes Wasser in die Augen.
Ich hab drei Verabredungen abgesagt, nur damit ich mit dir einen Kaffee trinken kann, und jetzt rennst du vor mir davon. Bist du verrückt?
Niks hob die Hand und versuchte, Ullas Finger aus ihren Haaren zu lösen. Sie sah Wasser auf Ullas Jacke tropfen. Einen Moment stand es glänzend auf dem schwarzen Stoff, dann sickerte es weg. Ich muss heim, sagte Niks. Es geht mir nicht gut.
Sofort nahm Ulla ihre Finger zurück. Ihr Zorn schlug in neugierige Besorgnis um. Was ist los? Bist du krank? Niks schüttelte den Kopf und schämte sich. Ihre Mutter hatte ihr früher verboten, Blessuren oder Unwohlsein vorzutäuschen. Nein, mir fehlt nichts. Ich möchte nur allein sein.
Nichts hinderte Niks am Gehen. Ihre Haare waren längst wieder frei.
Ulla zuckte mit den Achseln. Wie du willst.
Im Schutz des Kollektivs durfte man neugierig aufeinander sein, der Einzelne war austauschbar. Wie leicht würde Ulla eine neue Freundin finden. Sie wandte sich zum Gehen, überzeugt, Niks würde ihr folgen. Sie machte große, lässige Schritte. Niks erwartete, hinter ihr immer kleiner zu werden. Ullas Haare wehten, ihre Rockfransen schmiegten sich an ihre schwarzen Beine und rissen sich wieder los. Ein verlängerter Schritt brachte sie auf die Straße. Da kam auch schon der Bus, der zur Haltestelle abbremste; er traf Ulla von der Seite. Sie wurde zu Boden geschleudert und blieb auf dem Gesicht liegen.
SEERHEIN
Im November taucht Niks nicht mehr ganz unter. Stattdessen geht sie Schritt für Schritt ins Wasser und betrachtet die klaren Kiesel zu ihren Füßen. Herbstwinde haben den See umgewühlt und Kälte aus tiefen Regionen nach oben geschaufelt. Fluss-Seeschwalben lassen sich keine mehr blicken. Dafür sind neue Enten da. Die schwarz-weißen mit den gelben Augen, den blauen, plumpen Schnäbeln und dem Schopf am Hinterkopf findet Niks besonders hübsch. Sie liegen wie platte Melonenkerne im Wasser und kommen ihr nicht zu nahe. Braune Stockenten sammeln sich zu winterlichen Pulks. Im Sommer watscheln sie den Menschen zwischen den Füßen herum. Jetzt reicht ein unbedachter Schritt, um die gesamte Vogelschar panisch auffliegen zu lassen.
Schon nach wenigen Schwimmzügen kriecht Niks die Kälte in Finger und Zehen. Am ausgetrockneten Ufersaum ist ein Radler unterwegs. Er versucht vergeblich, mit seinem Fahrrad auf die Quaimauer zu springen. Er trägt einen Helm, dazu Knie- und Ellenbogenschoner. Auf seinem leuchtend roten Hemd stehen Buchstaben, die Niks nicht lesen kann. Die letzten beiden Züge sind ihr beinah zu viel. Sie steigt aus dem hüfttiefen Wasser und schüttelt die Arme. Diesmal schafft es der Fahrradfahrer fast auf die Mauer, doch im letzten Moment rollt er wieder zurück. Niks greift zum Handtuch, das sie ordentlich über ihre Klamotten gebreitet hat.
Der Radler dreht den Kopf und lächelt sie an. Ganz schön kalt, oder? Vor dem grauen Himmel wirkt das Rot seines Trikots fast unverschämt.
Niks lächelt zurück, wickelt sich das Handtuch um die Hüften und steigt aus dem Badeanzug.
Wie viel Grad das Wasser denn habe, fragt er. Unterm Helm ringelt sich eine dunkle Locke über seine blasse Stirn. Er trägt eine schmale, viereckige Brille.
Als sie in ihre Fleecejacke schlüpft, bekommt Niks eine Gänsehaut. Sie nickt dem Radler zu. Vielleicht zehn oder elf, ich weiß es gar nicht so genau.
Und das machen Sie den ganzen Winter über? Seine Haltung verrät Bewunderung. Niks bleibt auf einem Bein stehen, fädelt das andere durch die Hose. Sie verliert die Balance, obwohl sie sich an der Mauer abstützt.
Vorsicht! Auf diesen Steinen kann man sich ganz leicht den Fuß verdrehen.
Dass er ihr Ratschläge gibt, betrübt Niks. Womöglich wirkt sie gebrechlicher als sie sich fühlt. Letztes Jahr war ich sogar im Januar schwimmen!
Ach wirklich! Auf einmal klingt er ironisch, und Niks ärgert sich über sich selbst. Na, dann bleiben Sie vorsichtig! Er schwingt sich auf sein Fahrrad, nimmt ein paar Meter Anlauf und springt die Mauer hoch. Diesmal klappt es. Zum Abschied hebt er grüßend die Hand. Niks hört das Knallen breiter Fahrradreifen auf fliegendem Kies, dann ist alles still. Nicht mal die Enten haben sich von ihm stören lassen.
Hektor ist nicht zu Hause. Die Tür zu seinem Zimmer ist geschlossen. Vorsichtig drückt Niks die Klinke nach unten und schiebt ihren Kopf durch den Türspalt. Die Vorhänge sind teilweise zugezogen, das Bettsofa ausgeklappt, ein Berg Wäsche liegt darauf, und am Boden wartet ein zerknäultes, gelbes T-Shirt mit der Aufschrift Linkin Park. Auf dem Sekretär liegt Hektors schwarzes Notebook mit erwartungsvoll hochgeklapptem Bildschirm.
Niks öffnet die Tür ganz und geht leise ins Zimmer. Macht die Fußsohlen rund wie eine Einbrecherin, um keine Diele zum Knarren zu bringen. Vergeblich. Als sie sich auf das ungemachte Ausziehsofa setzt, quietschen Metallstangen. Der Duft im Zimmer hat sich verändert. Den ganzen Sommer über roch es sanft nach den Lavendelblüten in den Kräutertöpfen auf dem Fenstersims. Nun liegt ein Hauch After Shave in der Luft, unterlegt von einem fremden, dumpfen Geruch, den Niks mit dem Kupfer-Geschmack alter Pfennigstücke assoziiert. Dem Schweiß schlafloser Nächte. Löwenkäfigen. Als hätte sich in ihrer Wohnung ein wildes Tier verfangen, um männliche Artgenossen zu vertreiben. Ein Fellträger, ein Trojaner. Doch Niks ist kein männlicher Artgenosse. Sie nimmt das T-Shirt vom Boden und vergräbt ihr Gesicht darin. Der Stoff ist wider Erwarten weich und frisch. Als käme er direkt von Mamas Bügelbrett.
Niks