Kappe und die verkohlte Leiche. Horst Bosetzky

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Kappe und die verkohlte Leiche - Horst Bosetzky

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riefen die Kutscher.

      «Vierzehn», wiederholte Dlugy. «Zwölf bis vierzehn. Und darum sage ich in Richtung dieser Firmenleitung: Wer nicht hören will, muss fühlen! Muss fühlen, dass er kein Geld mehr in die Kassen bekommt, wenn wir die Arbeit niederlegen.»

      «Streik! Wir streiken!»

      So wurde es einstimmig beschlossen. Dlugy war zufrieden mit seinem Auftritt und machte sich daran, die Streikposten zu organisieren. Als das erledigt war, setzte er sich auf sein Rad und fuhr zu seiner Stammkneipe in der Rostocker Straße, die bei der Polizei als Anarchistentreff verschrien war.

      «Wenn det mal nich der Funke is, der det Pulverfass in de Luft jehn lässt», sagte der Wirt, als ihm Dlugy von der Ausrufung des Streiks der Kohlenarbeiter berichtet hatte. «In janz Moabit brodelt et mächtig. Und pass uff, wat ick dir sage: Et wird ooch Tote jeben.»

      «Da kannste jetrost eenen druff lassen», fügte sein Zapfer hinzu.

       Dienstag, 20. September 1910

      DIE FIRMA KUPFER & CO., zu deren Eigentümern auch der Großindustrielle und Zechenmagnat Hugo Stinnes gehörte, gab zu den Ereignissen auf ihrem Gelände eine knappe Erklärung ab, in der es unter anderem hieß:

       Am 15. September bekamen wir von dem Deutschen Transportarbeiter-Verband ein Schreiben, in dem, ohne dass vorher von Seiten der Arbeiterschaft eine Andeutung gemacht war, eine Lohnerhöhung von 43 Pfennig auf 50 Pfennig für die Stunde für Arbeiter und auf 33 von 30 Mark pro Woche für Kutscher gefordert wurde. Der Stundenlohn von 43 Pfennigen ist höher als der, der in fast allen Berliner Kohlengeschäften gezahlt wird. Deshalb war von vornherein das Ansinnen des Transportarbeiter-Verbandes nicht diskutabel. Trotzdem sind wir dem Ersuchen nachgekommen und haben das Schreiben dem Verband der Kohlenhändler unterbreitet und dem Transportarbeiter-Verband einen Vorbescheid gegeben, dass wir auf die Sache zurückkommen würden. Am 18. September ist diese Antwort im Besitz des Transportarbeiter-Verbandes gewesen, aber am 19. September um sechs Uhr früh erklärten die Arbeiter, nicht mehr arbeiten zu wollen, weil wir die Forderung nicht bewilligt hätten. Der Streik ist danach völlig vom Zaune gebrochen. Wir beschäftigen 150 Arbeiter und haben die größten Kohlenplätze in Berlin, es steht für uns außer Frage, dass die Arbeiter bei uns eine Machtprobe machen wollten.

      Und auf diese Machtprobe ließ man es gern ankommen. Einige willige Arbeiter fand man in der eigenen Firma, außerdem warb man über eine Hamburger Agentur fünfzig Kräfte an, sodass am Dienstagmorgen sechs Kohlenwagen den Platz in der Sickingenstraße verlassen konnten, eskortiert von fünfzig Berittenen und fünfzig Schutzleuten zu Fuß. Die wenigen Streikposten vermochten sie nicht aufzuhalten. Um fürderhin besser gewappnet zu sein, begannen diese, das Straßenpflaster aufzureißen.

      Paul Tilkowski, der zwar in der Sickingenstraße wohnte, aber auf einem anderen Moabiter Kohlenplatz arbeitete, verfolgte dies alles mit Kopfschütteln. Er war durch und durch unpolitisch, und wenn ihn ein Funktionär ansprach, ob er in die Gewerkschaft eintreten wolle, warf er ihm das nächstbeste Brikett an den Kopf. Der Streik der Moabiter Kohlenarbeiter interessierte ihn einen feuchten Kehricht. Er war froh, dass er Arbeit hatte, und wollte nichts anderes als arbeiten. Ob er nun 43 oder 50 Pfennig in der Lohntüte hatte - das machte den Kohl auch nicht mehr fett.

      Er war der Erste - und womöglich auch der Einzige –, der heute auf dem Kohlenplatz von Gottfried Kockanz in der Wiclefstraße zur Arbeit erschien. Kein Problem, er hatte einen Schlüssel. Bevor er die erste Tür aufschloss, riss er erst einmal die Zettel ab, die man an den kompakten hölzernen Zaun geklebt hatte, der den Platz wie eine Festungsmauer von der Straße trennte: Plumeyer’s Bartwuchsbeförderer. Garantiert unschädlich! Vom kaiserl. Patentamt gesetzl. geschützt. - Bügele Deinen Cylinderhut selbst auf mit Cylindrol!

      Der Kohlenplatz war eingeklemmt zwischen den Mauern der beiden angrenzenden vierstöckigen Mietshäuser und erinnerte von weitem an einen ausgeschlagenen Zahn in einem sonst gleichmäßigen Gebiss. Paul Tilkowski hatte einige Mühe, das Tor aufzusperren, denn die beiden Flügel hingen schon so schief in den Angeln, dass die Bretter unten über das Pflaster schleiften. Da das Grundstück bald bebaut werden sollte, investierte Kockanz kaum noch etwas. Obwohl er keine eigenen Fuhrwerke hatte und seine Briketts und Steinkohlen mit Handkarren ausfahren ließ, musste die Einfahrt breit genug sein, damit die Wagen der Anlieferer hindurchpassten. Kockanz’ Kunden waren die Haushalte und kleinen Läden ringsum. Oft hatten die Leute so wenig Geld, dass sie mit einem Blecheimer kamen und sich fünf Presskohlen holten. Eine Goldgrube war diese Kohlenhandlung nicht, aber Kockanz besaß noch eine andere nebenan in Charlottenburg, die mehr einbrachte, und sollte, wie es hieß, auch noch über andere Einkünfte verfügen.

      Tilkowski stampfte durch den schwarzgrauen Kohlengrus, als wäre es feiner, weißer Sand am Ostseestrand. Links stand die mit Karbolineum gestrichene Baracke, die Kockanz als Büro diente, und rechts gab es einige windschiefe Unterstände, um die Kohlenvorräte und das aufgestapelte Brennholz vor Regen zu schützen. Groß umzuziehen hatte er sich nicht, und so wollte Tilkowski, wie immer in der wärmeren Jahreszeit, seine abgewetzte Tasche mit der Stullenbüchse und der Flasche mit Muckefuck auf das Fensterbrett legen und dann mit der Arbeit beginnen, als er bemerkte, dass eine Scheibe des Kontors eingeschlagen war und das Fenster offenstand. Wieder einmal ein Einbruch. Er fluchte vor sich hin. Als ob hier etwas zu holen wäre! Vielleicht lag der Einbrecher noch auf Kockanz’ Couch und schlief.

      Tilkowski griff sich sicherheitshalber eine Schaufel, ehe er rief, ob da jemand sei. Keine Antwort. Vorsichtig schloss er nun auf und machte sich daran, die einzelnen Räume zu durchsuchen. Die Schreib- und die Rechenmaschine sowie ein paar Groschen waren geklaut worden. Das Telefon stand noch auf dem Schreibtisch und funktionierte auch, sodass sich Tilkowski vom Amt mit seinem Chef verbinden lassen konnte. Die Polizei sollte Kockanz lieber selber anrufen.

      «Mache ich», sagte Kockanz, nachdem er ausgiebig über die herrschenden Verhältnisse geschimpft hatte. «Der Mob darf ja heute machen, was er will. Nun gut. Ich komme nachher vorbei.»

      Tilkowski hängte den Hörer wieder auf. Endlich konnte er anfangen. Er arbeitete gern. Es machte ihn stolz und glücklich, wenn er mit seiner Kraft und seiner Geschicklichkeit Güter und Lasten bewegen konnte. Je mehr und je schwerer, desto besser. Jeden Tag musste er sich beweisen. Wenn ihn jemand einen Kraftprotz nannte, empfand er das als Auszeichnung.

      Paul Tilkowski hatte etwas Animalisches an sich, wie er mit nacktem Oberkörper in der milden Septembersonne stand und Koks in Jutesäcke schippte. So edel sein Körper auch gebaut war - für sein Gesicht hatte die Natur nur wenig übriggehabt. Wenn ihm die Spielkameraden in der Ackerstraße den Spitznamen «Neandertaler» verpasst hatten, dann sprach das für deren ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Auch überragende Intelligenz war Tilkowski schwer nachzusagen. Sein Spieß bei den «Stoppelhopsern» hatte es ganz passend auf den Punkt gebracht: «Du kannst wirklich nicht weiter denken als wie ein Bulle scheißt.» Zwei Dinge aber konnte Paule wunderbar: tanzen und die Mädchenherzen entflammen. Man erzählte sich von ihm, dass er einige Zeit in Paris gelebt und dort als Aufpasser in einem Bordell gearbeitet habe. «Da hatta ooch seine Liebeskünste her, von die Damen da.» Vorstrafen hatte er auch schon einige auf dem Konto, die meisten wegen Körperverletzung. War er betrunken und kam ihm dann einer dumm und dämlich, schlug er auf der Stelle zu - und er war jedes Wochenende betrunken.

      Hermann Kappe war nun schon seit drei Wochen in Berlin, aber noch immer kam er sich in der Hauptstadt irgendwie verloren vor. So zuckte er unwillkürlich zusammen, als sein Vorgesetzter ihm sagte, er möge sich nach Moabit in Marsch setzen, von der Kohlenhandlung Kockanz in der Wiclefstraße sei ein Einbruch gemeldet worden und die dortige Wache habe wegen der Streikunruhen keine freien Kapazitäten. «Und die wissen, dass wir Sie hier am Alexanderplatz als Supernumerar zur freien Verfügung haben.»

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