Kappe und die verkohlte Leiche. Horst Bosetzky
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Viel zu schnell musste sie wieder in ihre Plätterei zurück. Paul winkte ihr noch lange hinterher. Es kamen jetzt einige Kunden, die ein paar Briketts für ihre Kochmaschinen brauchten und allesamt anschreiben ließen. Tilkowski war das lieb, denn nur ungern kassierte er selber. Wie hatte schon sein Lehrer immer gesagt? «Kopfrechnen schwach, Religion sehr gut.»
Weil er noch immer allein war, musste er alle paar Minuten ins Büro laufen und das Telefon abnehmen. Anschließend arbeitete er umso eifriger. Gerade war er dabei, schwere Säcke mit Koks, die für den Bäcker Kötterheinrich bestimmt waren, auf einen Handkarren zu hieven, als er Gustav Dlugy auf den Kohlenplatz kommen sah.
Dieser verdammte Schwätzer von der Gewerkschaft! Großes Maul und nichts dahinter. Tilkowski hob den nächsten Sack hoch, als steckte er nicht voller Koks, sondern voller Bettfedern, und warf ihn auf den Karren.
«Du arbeitest?», fragte Dlugy.
«Nein, ich trainiere für Kraftsport Moabit.» Tilkowski sah keinen Grund, eine kleine Pause einzulegen.
Dlugy fixierte ihn. «Du weißt, dass wir Kohlenarbeiter alle streiken?»
«Alle nich, siehste ja.»
«Es geht auch um deine Rechte und um höhere Löhne für dich», begann Dlugy zu agitieren. «Nur gemeinsam sind wir stark. Ohne uns sind die Unternehmer am Ende.»
Tilkowski ließ einen weiteren prall gefüllten Jutesack auf die Landefläche krachen. «Ohne uns holen sie Arbeiter aus Hamburg oder aus Galizien nach Berlin. Die sitzen immer am längeren Hebel.»
«Keine Angst, wir lassen uns schon etwas einfallen, um den Streikbrechern das Handwerk zu legen.»
Tilkowski winkte ab. «Wenn die Schutzleute mit ihren Säbeln kommen und blankziehen.»
Dlugy ließ nicht locker. «Paule, du bist doch einer von uns. Komm, mach mit! Wir brauchen dich.»
«Hau ab!» Tilkowski griff nach einer Schippe.
Dlugy ignorierte es. Er war sich seiner Stärke bewusst, vor Männern wie Tilkowski brauchte er keine Angst zu haben. Aber er hielt nichts von Gewalt, wenn es darum ging, andere zu überzeugen. Das «Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein» war ihm zuwider. «Sieh mal, Paul, wenn ihr beide heiratet, Sophie und du, dann kommt ihr doch mit deinen paar Pfennigen nie und nimmer aus.»
«Womit wir auskommen oder nich, det jeht dir eenen Scheißdreck an. Los, verpiss dich, du Arschloch!» Tilkowski hob die Schippe und ging langsam auf Dlugy zu.
«Wenn schon, dann nur mit den Fäusten.» Dlugy krempelte sich die Ärmel hoch. «Aber es ist traurig, wenn Arbeiter auf Arbeiter einschlagen.»
«Du bist doch schon längst keen Arbeiter mehr», höhnte Tilkowski. «Du bist doch ’n Bonze und kriechst denen von der Gewerkschaft in ’n Arsch, damit se dir vom Kohlenplatz wegholen, und im Büro verdienst du dir dann dumm und dämlich. Du Drecksau, du! Du Verräter!» Wenn Tilkowski Menschen hasste, dann Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre. Die benutzten solche wie ihn doch nur, um Karriere zu machen.
«Einer muss doch mit den Arbeitgebern verhandeln», sagte Dlugy. «Und wir können das nun mal am besten. ..»
Weiter kam er nicht, denn Tilkowski drang nun derart heftig auf ihn ein, dass er ein paar Schritte zurückweichen musste, um seine Fäuste hochzureißen und einen besseren Stand zu haben. Doch Dlugy hatte Pech, er blieb mit den Füßen an einem Wasserschlauch hängen und stürzte rückwärts zu Boden. Schon kniete Tilkowski auf ihm und machte sich daran, ihn fürchterlich zu verdreschen.
Als Dlugy endlich wieder auf den Beinen stand, war er im Gesicht fürchterlich zugerichtet.
«Das gibt Rache», murmelte er, als er auf die Straße hinkte.
VIER
Freitag, 23. September 1910
HERMANN KAPPE hatte Feierabend und überlegte, ob er vom Polizeipräsidium nach Hause laufen oder sich eine Fahrt mit der Straßenbahn gönnen sollte. Vom Alexander zum Mariannenplatz waren es keine drei Kilometer, also von der Entfernung her ein Klacks für ihn, doch Pflastertreten war mühsam. Er beschloss, das Problem durch eine Art Gottesurteil zu lösen: Kam gerade eine 22 oder 46 die Alexanderstraße entlang, wenn er die Haltestelle passierte, wollte er einsteigen, kam keine, würde er zu Fuß nach Hause laufen. Die 46, unterwegs nach Rixdorf, kam herangerumpelt, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als einzusteigen. Er wählte die vordere Plattform, denn wie ein kleiner Junge liebte er es, dem Mann an der Kurbel beim Fahren über die Schulter zu schauen. Schon wurde abgeklingelt. Der Fahrer löste die Bremse und schaltete die Motoren hoch. Bald aber musste er schon wieder anhalten, um nach links in die Kaiserstraße abzubiegen. Kappe war schon so oft mit der 46 gefahren, dass er die Strecke ganz genau kannte: Alexanderstraße - Kaiserstraße - Große Frankfurter Straße - Andreasstraße - Schillingbrücke - Köpenicker Straße - Adalbertstraße - Waldemarstraße.
«Noch jemand ohne Fahrschein?» Hinter ihm klimperte der Schaffner ebenso fordernd wie ungeduldig mit dem «Galoppwechsler», den er auf der Brust hängen hatte.
«Moment. ..» Kappe griff in seine Brusttasche - und erbleichte. Da steckte keine Brieftasche. Gott, die hatte er in seiner Schreibtischschublade liegenlassen. Als würde er sich nun selber einer Leibesvisitation unterziehen, klopfte er sich mit beiden Händen alle Taschen ab. Nichts. Wie peinlich. Wenn der Schaffner jetzt halten ließ, um einen Schutzmann zu rufen, dann war er blamiert bis in alle Ewigkeit. Entweder sie spotteten über ihn als Dorfdeppen, der nicht wusste, dass man in Berlin für eine Straßenbahnfahrt zu bezahlen hatte, oder sie unterstellten ihm, er habe die Straßenbahngesellschaft um das Fahrgeld prellen wollen. «Ich will zur Waldemarstraße. .. Bis dahin werde ich schon noch zwei Groschen in meinen Taschen gefunden haben.»
«Hoffen und Harren macht manchen zum Narren», erwiderte der Schaffner.
Kappe war verzweifelt. Da hörte er eine Frauenstimme aus dem Innern des Wagens. «Kommen Sie, Herr Schaffner, ich zahle schon für meinen Mann.»
Er fuhr herum - und stand da wie vom Schlag getroffen. Wenn er sich nicht täuschte, war das Klara Göritz aus Wendisch Rietz. Sie war etwas jünger als er, und bevor sie nach Berlin gegangen war, hatte er sie angebetet. Bei jedem Fest hatten sie miteinander getanzt, und er hatte immer damit geprahlt, sie sei seine Braut, aber der Funke war nie so richtig übergesprungen, und sogar gegen einen flüchtigen Kuss hatte sie sich gewehrt.
«Du hier. ..?!» Er starrte sie an, gebannt von dem Gedanken, dass es nur die Macht des Schicksal sein konnte, die sie hier zusammenführte.
«Ja, ich hier.» Sie löste den Fahrschein für ihn.
«Danke. Wie kann ich das wiedergutmachen, das heißt, dir das Geld. .. das du. ..» Kappe begann zu stottern und hatte das Gefühl, mächtig rot zu werden. Seine Erfahrungen im Umgang mit