Kappe und die verkohlte Leiche. Horst Bosetzky
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«Mach’s gut, Mistvieh.» Er kraulte und tätschelte das Tier noch einmal, ehe er seine Behausung verließ und sich auf den Weg zur Chausseestraße machte. «Und wünsch mir viel Glück.» Der Hund bellte wie verrückt, und Schwina nahm es als gutes Omen. Er hatte sich da einen Trick ausgedacht, der viel Geld versprach. Leider brauchte er einen Komplizen dazu, denn wegen seiner auffälligen Stimme konnte er bestimmte Sachen nicht mehr selber machen, die Kriminalbeamten hätten ihn sonst gleich erkannt. Das Dumme an einem Komplizen war, dass man mit ihm teilen musste. Andererseits war Alfons für ihn auch mehr als nur ein Komplize. Wie auch immer, Alfons hatte gestern nach einem Kohlen- oder Gemüsehändler suchen müssen, von dem auch kleine Fuhren angenommen wurden, und war in der Lüneburger Straße fündig geworden. «Kommen Sie bitte zum Haus Chausseestraße 98, dort wartet Herr Baurat von Ferbitz auf Sie. Es sind ein paar wertvolle Möbelstücke zu seiner Schwiegermutter zu bringen.»
Aber wer dort wartete, war Friedrich Schwina, hinter einer Litfaßsäule in Deckung gegangen. Pünktlich war der Fuhrwerksbesitzer zur Stelle. Zuerst harrte er der Dinge, die da kommen würden, und hielt oben von seinem Bock Ausschau nach dem Baurat. Die Minuten vergingen. Als ihm die Zeit zu lang geworden war, sprang er auf die Straße hinunter, um sich auf die Suche nach dem Baurat zu begeben. Wahrscheinlich musste der erst herausgeklingelt werden.
Schwina wartete, bis der Fuhrwerksbesitzer einen aus dem Haus kommenden Mieter angesprochen hatte und ihm den Rücken zukehrte, dann kam er hinter der Litfaßsäule hervor und schwang sich auf den Kutschbock. In Sekundenschnelle hatte er sich die Zügel gegriffen. «Hüh!» Mit Pferden umzugehen hatte er schon als Kind gelernt, und der Braune vor dem Wagen setzte sich sofort in Trab. Es ging die Chausseestraße hinunter, als wollte er zum Oranienburger Tor. Aber das war nur eine Finte, um den Fuhrwerksbesitzer zu täuschen, wenn der die Verfolgung aufnahm. Schon an der nächsten Querstraße bog Schwina scharf nach rechts ab, um am Naturhistorischen Museum vorbei zur Scharnhorststraße zu gelangen und den ganzen Komplex von Kasernen und Krankenhäusern zu umfahren. Über die Boyenstraße kam er wieder auf den Straßenzug Chaussee- und Müllerstraße zurück und konnte diesen nun, vor jeder Verfolgung ziemlich sicher, in entgegengesetzter Richtung entlangfahren. Oben an der Müllerstraße hatten Zigeuner ihr Lager, und denen verkaufte er für gutes Geld Pferd und Wagen.
Es war ein guter Tag für Friedrich Schwina, denn wenig später sah er ein Fahrrad, nur so an einen Baum gelehnt, und damit war er bald wieder in seiner Laube zurück. Er küsste das Mistvieh auf die Schnauze. Das brachte immer Glück.
Keine halbe Stunde später stand ein nobel gekleideter junger Mann vor seinem Gartenzaun und begehrte Einlass. «Ich bin’s, Alfons.»
Alfons Weißagk kam aus einer ehrbaren Familie. Sein Vater war Mitinhaber einer kleinen Privatbank und seine Mutter sogar eine «von». Nach fünf Knaben hatte er eigentlich ein Mädchen werden sollen, und von seiner liebenden Mutter war er auch lange Zeit als solches gekleidet und behandelt worden. «Ist er nicht süß - wie ein Mädchen.» Schauspieler und Sänger hatte er werden wollen - und nicht Bankier. Mit siebzehn Jahren war er dann mit einem älteren Mimen durchgebrannt und prompt vom Elternhaus verstoßen worden. Alles, was er nun tat, begriff er als Rache. Eines Tages war es ihm gelungen, ein Blatt aus dem Verbrecheralbum herauszureißen, das Blatt mit seiner Photographie und seiner Vita, und das hatte er seinem Vater zum fünfzigsten Geburtstag nach Hause geschickt. «Mit herzlichen Glückwünschen - zu diesem Sohn.» Die meisten Strafen hatte er als Hochstapler aufgebrummt bekommen, aber auch Trickbetrügereien und Heiratsschwindel gehörten zu seinem Repertoire. Sozusagen geerbt hatte er die Nähe zu den höheren Kreisen, und so war es ihm ein Leichtes, die Rolle des ergebenen Dieners stilecht auszufüllen und sich das Vertrauen seiner Herren zu erschleichen. So erfuhr er viele Dinge, die es ihm und seinem Komplizen leicht machten, an reiche Beute zu gelangen. Sie hatten schon ein kleines Vermögen angehäuft und sicher versteckt. Dass Schwina in einer Laube lebte und er nur Diener war, gehörte zur Tarnung. Spätestens im Sommer des nächsten Jahres wollten sie alles nehmen und nach Amerika gehen. Er selber träumte immer nur von Buenos Aires, Friedrich dagegen hätte lieber in den Vereinigten Staaten gelebt.
Friedrich Schwina holte seinen teuersten Kognak aus dem Versteck. Sie stießen auf den gelungenen Coup mit dem Pferdefuhrwerk an.
«Mehr als dreimal dürfen wir das nicht machen», sagte Weißagk. «Dann sind alle kleinen Fuhrunternehmen gewarnt und rufen den nächsten Blauen herbei, wenn ich auftauche.»
Schwina rechnete im Kopf. «Uns fehlen noch mehr als zehntausend Mark.»
«Keine Sorge, ich bin ja jetzt bei Kockanz.»
«Verdient der denn mit seinen beiden Kohlenplätzen so viel?» Schwina war da etwas skeptisch.
«Nein, aber er hat einen reichen Onkel in Koblenz. Leder en gros und en detail. Außerdem gibt es Bares, das der Onkel nicht auf seinem Konto haben durfte. Ich weiß bloß noch nicht, wo Kockanz das versteckt hat. Aber das werde ich schon noch herausbekommen, muss mich nur beeilen, denn er will sich ein Grundstück kaufen, oben in Frohnau.»
Am Montag war der Streik bei Kupfer & Co. ausgerufen worden, aber erstaunlicherweise war es die ganze Woche über in Moabit vergleichsweise ruhig geblieben. Der Zorn der Streikenden und ihrer Sympathisanten auf die Streikbrecher und die Schutzleute, die ihre Kohlenwagen eskortierten, hatte sich lediglich in Schimpfkanonaden entladen, und überall war es bei Drohgebärden geblieben. Die organisierten Arbeiter waren ohnehin diszipliniert, und die Radaubrüder, die Gelegenheiten wie diese gern nutzen, um sich gehörig auszutoben, hatten zwar das Straßenpflaster aufgerissen, nutzten die Steine aber noch nicht, um die Schutzleute damit zu bewerfen. Diese wiederum zogen die Säbel zwar blank, attackierten aber noch niemanden. Die Staatsmacht hielt sich zurück und nahm es ohne große Reaktionen hin, dass die Streikenden Kaufhäuser und kleine Läden zwangen, Plakate ins Schaufenster zu hängen, auf denen groß zu lesen war, dass sie Streikbrecher weder mit Lebensmitteln noch mit Schlafdecken beliefern würden. Der Polizeimajor Klein hatte vorsichtshalber eine Verstärkung des zuständigen und des Nachbarreviers angeordnet, um für alle Fälle Mannschaften zur Stelle zu haben, doch seine Beamten verbrachten ruhige Tage.
Die Lunte mochte glimmen, aber es sah lange Zeit nicht danach aus, dass sie das Pulverfass erreichen würde.
Am Freitag aber spürte jeder, dass etwas in der Luft lag. Es war schwer zu sagen, was die Stimmung der Leute immer mehr anheizte. Bei den organisierten Arbeitern um Gustav Dlugy war es die Ohnmacht dem Kapital gegenüber, die sie immer aggressiver werden ließ. Die Gegenseite zeigte sich so wenig verhandlungs- und kompromissbereit wie am ersten Tag. Was die Arbeiter besonders reizte, war das Gerücht, dass Hugo Stinnes nicht nur Streikbrecher aus Hamburg nach Berlin gebracht, sondern auch beim preußischen Innenministerium interveniert und den Einsatz von tausend Schutzmännern gefordert haben sollte. Aber die Menge, die sich in der Sickingenstraße angesammelt hatte, bestand nicht nur aus sozialdemokratischen Arbeitern und anderen ansonsten sehr gesetzestreuen Bürgern, die nur ihrer Schaulust frönen wollten, sondern auch aus Menschen, die man viele Jahrzehnte später Autonome, Anarchos, Desperados oder Outlaws nennen sollte. In den Zeitungen des Jahres 1910 wurden sie als «Ausständige», als
«Tumultuanten» oder als «Mob» bezeichnet, aber auch mit einem veralteten Begriff als «Janhagel», als Pöbel also, oder schließlich als
«Exzedenten»,