Das Attentat auf die Berliner U-Bahn. Horst Bosetzky
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Attentat auf die Berliner U-Bahn - Horst Bosetzky страница 2
Mochten die Erwachsenen alldem auch noch so skeptisch gegenüberstehen, die beiden Knaben lauschten am Katzentisch mit heißem Herzen, denn Hermann und Ludolf waren leidenschaftlich angetan von allem, was auf Schienen fuhr.
Hermann Mahlgast, im Februar elf Jahre alt geworden, war eine behagliche Natur. Es gab Menschen, die ihn träge nannten, doch da irrten sie, es dauerte nur eine Weile, bis er sich in ungewissen Situationen einen Überblick verschafft und die optimale Reaktion herausgefunden hatte. Wie kein anderer verkörperte er das Prinzip »Erst wägen, dann wagen«. Dieser Charakterzug hatte sich schon in frühester Kindheit abgezeichnet, und er wurde immer ausgeprägter, je älter Hermann wurde. Seine Verwandten, Lehrer und Nachbarn führten es auf die Vererbung zurück, denn sein Vater, Archivsekretär im Preußischen Innenministerium, war die Ruhe selbst und gab mit feiner Selbstironie die Schnecke als sein Lieblingstier an. Seine Mutter kam von einem Bauernhof im Oderbruch, und von ihr hatte er das Bodenständige und die blonden Haare geerbt.
Ludolf Tschello, ein knappes Jahr älter als Hermann, war ein gefühlsbetonter und mitunter sehr impulsiver Mensch. Sprunghaft nannten ihn seine Lehrer, und oft genug bekam er für seine Vergehen gegen die Schuldisziplin die Haselrute zu spüren, oder er musste in der Ecke stehen und nachsitzen. Andererseits war er in der Auffassungsgabe allen anderen überlegen und wurde bei den allfälligen Visitationen des Herrn Oberschulrates gern als Musterschüler präsentiert. Hoch aufgeschossen war er, fast schon mager, und vom Typ her südländisch, was daher kam, dass seine Vorfahren väterlicherseits aus Österreich kamen. Sein Vater war Geiger in der Kapelle von Benjamin Bilse, seine Mutter war die Tochter eines Gutsverwalters aus der Gegend um den Schwielochsee.
Die beiden Jungen kannten sich von der Wiege an, denn schon ihre Mütter waren gemeinsam zur Schule gegangen.
Endlich war das förmliche Kaffeetrinken zu Ende, und sie hörten die erlösenden Worte, auf die sie schon so lange gewartet hatten: »Ihr könnt jetzt spielen gehen.« Und sofort waren sie im Treppenhaus und fegten auf die Straße hinunter. Das, was man ihnen hinterherrief, nahmen sie schon gar nicht mehr wahr, es war ja auch immer dasselbe: »Und passt auf, dass ihr nicht in den Kanal fallt!«
Gustav und Hertha Mahlgast, die besorgten Eltern, wohnten seit drei Jahren in der Tempelhofer Vorstadt, genauer gesagt in der Villensiedlung Wilhelmshöhe an der Tivoli-Brauerei, also da, wo die »besseren Leute« zu Hause waren: Beamte, Offiziere, Akademiker, Kaufleute und Handwerksmeister. Von der Belle-Alliance-Straße hatten es die beiden Jungen nicht weit bis zum Schöneberger beziehungsweise Tempelhofer Ufer und den Brücken, auf denen die Potsdamer, die Anhalter und seit kurzem auch die Wannseebahn die Straße überquerten. Natürlich war es strengstens untersagt, auf den Bahndamm zu klettern, um die vorbeihuschenden Züge aus nächster Nähe zu bestaunen, aber was scherte sie das. Und wenn sie auch nicht wussten, wann Julius Caesar ermordet worden war, wie die Hauptstadt Schwedens hieß und wie cucullus non facit monachum zu übersetzen war, so hatten sie doch alles im Kopf, was die Berliner Bahnen betraf.
Was die beiden Jungen derzeit ganz besonders faszinierte, war der Bau des Anhalter Bahnhofs südlich des Askanischen Platzes. Sie freuten sich schon auf die Einweihung, die auf den Sommer 1880 terminiert war. Im letzten Jahr hatte man mit dem Abriss des alten Bahnhofs der Berlin-Anhaltinischen Eisenbahn begonnen, und den Fahrgästen stand derzeit nur ein provisorischer Bahnhof an der Trebbiner Straße zur Verfügung. Manchmal stromerten die beiden Freunde aber auch zum Dresdener Bahnhof, der südlich der Luckenwalder Straße gelegen war, oder zum neuen Potsdamer Bahnhof, der von Kaiser Wilhelm I. am 30. August 1872 feierlich eingeweiht worden war. Damals hatten Hermann und Ludolf auf den Schultern ihrer Väter gesessen und aus der Ferne zugeschaut.
Hatten sie weniger Zeit, dann saßen sie, so wie heute, am Bahndamm der Anhaltinischen Bahn und warteten auf die Züge. Dabei gerieten sie immer wieder ins Fachsimpeln. Ob beispielsweise Dampflokomotiven mit Innenzylindern, wie sie die Engländer bauten, denen mit Außenzylindern überlegen waren.
»Die deutsche Technikerversammlung ist auch für Innenzylinder«, sagte Hermann Mahlgast. »Die Lokomotiven laufen ruhiger, weil die Lastenverteilung besser ist.«
»Aber wenn die Zylinder im Rahmen liegen, kommt man nicht an sie heran, wenn sie gewartet werden müssen oder wenn etwas kaputt ist!«, rief Ludolf Tschello. »Die Zukunft gehört dem Außenzylinder.«
»Du kriegst gleich einen auf den Zylinder!«
Hermann Mahlgast versuchte, dem Freund mit der rechten Hand auf die Mütze zu schlagen, doch der wehrte sich, und so war im Nu eine heftige Balgerei entstanden. Jeder wollte stärker und geschickter sein als der andere. Ihre Freundschaft war immer auch ein Wettbewerb und lebte davon, dass beide in etwa über dieselben Gaben verfügten und ein ständiges Gleichgewicht vorhanden war. Da sie beide sehr aneinander hingen, spürten sie instinktiv, dass alles aus sein konnte, wenn einer unterlag, denn beide konnten es nicht ertragen, nur Anhängsel des anderen zu sein.
So kämpften sie auch heute auf dem Bahndamm mit einer Intensität, die einem Außenstehenden unverständlich sein musste. Wer sie ohne Kenntnis des Hintergrundes miteinander boxen und ringen sah, hätte sie für erbitterte Feinde halten können.
Nach ein paar Augenblicken hatten sich Hermann und Ludolf so ineinander verbissen, dass sie gar nicht merkten, wie sie auf die Gleise gerieten. Man konnte sich an den Schwellen und Schienen so schön abstoßen, wenn man auf den anderen eindrang. Und sie schrien bei ihren Attacken so laut, dass sie die warnenden Pfiffe eines von Steglitz herannahenden Personenzuges überhaupt nicht bemerkten. Bremsen kreischten.
Zu spät. Dem Lokführer blieb nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen …
Bei der Geburtstagsfeier im Hause Mahlgast ging es fröhlich zu, seit der Hausherr sein Likörschränkchen geöffnet hatte, und wer jetzt das Wort ergriff, um ernsthaft über ein Thema zu sprechen, musste damit rechnen, mit einer launigen Bemerkung unterbrochen zu werden.
»Ihr werdet sehen: Bis wir das Jahr 1900 haben, hat Siemens ganz Berlin mit einem Netz von Hochbahnen überzogen«, sagte Germanus Cammer.
»Hoch soll sie leben«, wurde daraufhin gesungen, »dreimal hoch! Hoch, hoch, hoch – die Bahn!«
Hertha Mahlgast berichtete davon, wie sie in der letzten Woche beim Besuch einer Base in Wilmersdorf gesehen habe, dass der westliche Abschnitt der Ringbahn seiner Vollendung entgegengehe. »Da kann man in einem Zug einmal um Berlin herumfahren.«
»Und was hast du davon, wenn du da wieder ankommst, wo du gerade losgefahren bist?«, fragte ihr Mann.
»Richtig«, stimmte der Ingenieur Cammer ihm zu. »Wenn A und B identisch sind, brauchen wir weder Dampf- noch elektrische Bahnen, ja nicht einmal Pferde und Kutschen.«
Seine Frau konnte sich über diese Sicht der Dinge wie immer nur echauffieren. »Man besteigt doch einen Zug nicht nur, um möglichst schnell von A nach B zu gelangen, sondern um etwas zu erleben: eine idyllische Landschaft, eine Reisebekanntschaft,