Das Attentat auf die Berliner U-Bahn. Horst Bosetzky

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Das Attentat auf die Berliner U-Bahn - Horst Bosetzky

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der nächste Schub seiner Krankheit kam und er nicht mehr wusste, wer er war und was er war. In einem solchen Zustand war er völlig unberechenbar. Bei seinem letzten Anfall hatte er sich auf seinen Kohlenhändler gestürzt und versucht, ihn zu erwürgen, weil er ihn für den Teufel hielt. Hinterher hatte er dem Mann viel Geld gezahlt, um zu verhindern, dass Anzeige erstattet wurde. Zu einem Arzt wagte Grasmuck nicht zu gehen, weil er fürchtete, ins Irrenhaus zu kommen.

      Als sie vor dem Fuhrgeschäft in der Richardstraße angekommen waren, hatte Grasmuck seine Krise aber wieder überwunden. Er rief nach Krischan, doch die Stallwache saß wieder einmal im Krug. Es war ja auch nicht zu erwarten gewesen, dass Grasmuck heute noch nach Rixdorf kam.

      »Jetzt reicht’s mir aber.« Grasmuck war verärgert. »Dabei hab ich ihm gesagt, dass er rausfliegt, wenn das noch mal passieren sollte.«

      »Wir haben uns unsere Leute längst erzogen«, sagte Cammer. »Absolute Disziplin ist das A und O in jeder Fabrik.«

      »Bei meiner Pferdebahn auch – der Fahrplan muss ja eingehalten werden. Hier im Stall sehe ich das nicht so eng, aber einer hat immer hier zu sein. Wenn ein Tier eine Kolik bekommt, wenn ein Feuer ausbricht …« Grasmuck sah sich um, aber es war noch so hell, dass er keine Stalllaterne anzünden musste.

      Cammer wurde ungeduldig. »Wo steht denn nun der Hengst, den du mir …? Und wie heißt er eigentlich?«

      »Ares«, antwortete Grasmuck. »Der Züchter hatte ein Faible für römische Götter.«

      Cammer korrigierte ihn. »Ares war zwar ein griechischer Gott, aber das wäre kein Hinderungsgrund für mich, ihn zu erwerben. Wo steht er denn nun?«

      »Dahinten am Fenster.« Grasmuck ging voran. »So ein edles Tier gehört eigentlich auf die Weide, aber ich komme erst nächste Woche wieder nach Neuruppin. Hast du denn einen Stall bei dir in der Nähe?«

      »Ja, bei uns im Nebenhaus gibt es noch einen.« In diesem Augenblick erblickte Cammer das Pferd und war sofort hellauf begeistert. »Diese Blesse, genauso wie bei meinem Lieblingspferd früher auf dem Gut.«

      Der Hengst wieherte und stieg ein wenig hoch, so dass Grasmuck Mühe hatte, ihn zu beruhigen und das Zaumzeug anzulegen. »Ares, wirst du wohl! Es geht doch nicht zum Abdecker, es geht doch nur auf den Hof.« Das Tier beruhigte sich, und er konnte es wagen, Cammer die Zügel in die Hand zu drücken. »Mach dich schon mal mit ihm vertraut, ich muss mal schnell auf den Abtritt. Das gute Essen vorhin …« Es pressierte, und Grasmuck rannte fast zu dem windschiefen, hölzernen Verschlag in der rechten hinteren Ecke des Platzes. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugeschlagen, saß er auch schon auf dem Donnerbalken. Es war eine Erlösung, und er ließ ein wohliges Stöhnen hören.

      Gerade hatte er sich gesäubert, als er vom Hof her ein kräftiges Schnauben und Wiehern hörte. Cammer fluchte. Dann schrie er auf, während der Hengst panisch über den Platz fegte und durchgehen wollte. Als Grasmuck die Toilettentür aufgestoßen hatte, sah er, wie Ares mit dem Leib gegen eine Bretterwand krachte. Offenbar hatte er Cammer abgeworfen, denn der Ingenieur lag regungslos neben dem ausgehöhlten Baumstamm, der als Tränke diente. Grasmuck riss sich die Hosen hoch und rannte hin. Fast wäre er selbst von dem Hengst umgerissen worden. Noch im Laufen entdeckte er die gewaltige Wunde, die Cammer rechts oben am Kopf hatte. Wahrscheinlich war er mit dem ungeschützten Kopf gegen den Baumstamm geknallt. Oder aber Ares hatte ihn mit einem Huf getroffen.

      Eine Peitsche lag am Boden. Grasmuck riss sie hoch und ließ sie mehrmals knallen, um sich den Hengst vom Leibe zu halten. Cammer war jetzt wichtiger. Er kniete neben ihm nieder.

      »Was ist mit dir?«

      Eine Antwort bekam er nicht. Cammer sah aus, als wäre er mit einer Axt erschlagen worden.

      »Himmel!« Grasmuck erstarrte. Wenn ihn hier jemand fand, dann glaubte man doch sofort, er hätte den Ingenieur erschlagen. Alle wussten von ihrer Feindschaft, aber keiner von ihrer Versöhnung. Jeder Kriminale würde ihn für einen Mörder halten.

      Da kam Cammer wieder zu sich und tastete stöhnend nach seiner Wunde. In derselben Sekunde wurde Grasmuck von einer ungeheuren destruktiven Kraft erfasst, gegen die er nicht ankommen konnte. Eine herrische Stimme befahl ihm, zur Axt zu greifen: Wenn er noch nicht tot ist, dann töte ihn jetzt! Und er tat es.

      Als er sich umwandte, stand Krischan im Tor. Erst fing er den Hengst ein, dann kam er zu Grasmuck und Cammer herüber.

      »Ich hab alles gesehen«, sagte er und grinste.

      Liesbeth Cammer wartete ungeduldig darauf, dass ihre beiden Kinder die Wohnung verließen, denn sie wollte endlich mit dem Schreiben beginnen, doch sowohl Franz wie auch Anna Luise liebten es zu trödeln. Ihr Großer, der Nikolaus, war da ganz anders, aber der weilte zu Studien in London. Das Haus Siemens hatte sich sehr zuvorkommend gezeigt und unterstützte ihn mit einer erheblichen Summe.

      »Franz, du musst zu deiner Mathematik-Nachhilfestunde!«

      Ausgerechnet in der Domäne seines Vaters zeigte der Untersekundaner erhebliche Schwächen. Das lag weniger an mangelnder Intelligenz als vielmehr an seinem ostentativen Desinteresse an der Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern, wollte er doch nichts anderes als Schauspieler werden. Seine Mutter bekam leuchtende Augen, wenn er davon sprach, denn seinen Vornamen hatte er in Anlehnung an Franz Grillparzer erhalten, dessen Dramen Liesbeth Cammer überaus schätzte.

      »Anna Luise, würdest du dich bitte beeilen, Fräulein Hofstetter wartet nicht ewig auf dich!«

      Die Tochter, gerade dreizehn Jahre alt geworden, hasste die Klavierstunden bei dem ältlichen Fräulein und hätte sich viel lieber mit ihren Freundinnen getroffen, um tüchtig herumzualbern. Obwohl sie Anna Luise hieß, wie die berühmte Karsch, wollte sie weder Dichterin noch Pianistin werden, sondern, zum Entsetzen ihrer Mutter, nichts anderes als Krankenschwester und – O Gott! – Ärztin.

      Endlich verabschiedeten sich die Kinder und polterten die Treppe hinunter.

      »Und seid pünktlich zum Abendessen zurück!«, rief sie ihnen noch hinterher. »Vater schimpft sonst wieder mit euch.«

      Sie sah den beiden noch kurz hinterher, dann machte sie sich an die Arbeit. Woran sie derzeit schrieb, war eine dünne Monographie mit dem Arbeitstitel Deutsche Dichterinnen, die im nächsten Jahr im Verlag von Oskar Bonde in Altenburg erscheinen sollte. Nicht nur, dass sie dem Publikum ihre berühmten, aber oft schon lange vergessenen Kolleginnen mittels längerer Lebensläufe nahebringen wollte, sie hatte auch vor, charakteristische Texte nachzudrucken.

      Sie wandte sich einer Liste mit Namen zu, die alle noch zu bearbeiten waren. Sophie Bernhardi geb. Tieck (1775 – 1833), Dorothea Schlegel geb. Mendelssohn (1764 – 1839), Karoline Luise von Klenke geb. Karschin (1754 – 1802), Bettina von Arnim geb. Brentano (1785 – 1859), Gisela von Arnim (geb. 1827).

      Womit sollte sie beginnen? Noch ehe sie sich entschieden hatte, wurde am Klingelzug gerissen. Nach der Kraft zu urteilen, mit der das geschah, konnte es nur ihr Sohn sein. Und richtig, Franz stand vor der Tür und bekundete, fürchterlichen Hunger zu haben.

      »Wir warten mit dem Abendessen, bis Vater kommt«, beschied sie ihn. »Du weißt doch, wie sehr er es liebt, mit uns zusammen zu speisen.«

      »Wann kommt er denn heute?«

      »Bald. Er wollte am Nachmittag in die russische Botschaft Unter den Linden, um dort etwas zu besprechen, dann aber sofort nach Hause kommen.«

      Doch es wurde bereits

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