Das Attentat auf die Berliner U-Bahn. Horst Bosetzky

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Das Attentat auf die Berliner U-Bahn - Horst Bosetzky

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zur Chorprobe?«, fragte Grasmuck, denn ein wenig Konversation gehörte dazu, wenn gebildete Menschen sich trafen. Früher hatte man sich geduzt, dann aber in kurzen Briefen den anderen gebeten, bitte wieder zum Sie zurückzukehren.

      Cammer verbeugte sich mit leichter Selbstironie. »Ja, selbstverständlich. Ich kann doch die ›Äolsharfe‹ nicht ihres besten Tenors berauben.«

      Schon fühlte sich Grasmuck getroffen. »Wer der beste Tenor ist, sollten wir die Fachleute beurteilen lassen, und ich glaube, die sprächen sich einvernehmlich …«

      Weiter kam er nicht, denn drüben auf der anderen Straßenseite wurden Hochrufe laut. Kaiser Wilhelm I. fuhr in einem offenen Wagen vorüber. Beide rissen ihre Hüte hoch, um in den Jubel der anderen Passanten einzustimmen.

      Da fielen plötzlich Schüsse. Dreimal knallte es kurz und trocken. Alles schrie auf: »Der Kaiser!«

      Doch der war nicht getroffen worden, und trotz des unbeschreiblichen Getümmels hatte man den Attentäter schnell ergriffen. Schutzleute stürzten herbei.

      Auch Grasmuck und Cammer waren schockiert. Jeder wurde augenblicklich in den Strudel der Emotionen gerissen.

      »Dass es dazu kommen musste!«, rief Grasmuck.

      »Man darf es nie so weit kommen lassen, dass man den anderen derart hasst«, sagte Cammer. »Wir beide sollten das als Zeichen des Himmels nehmen und zusehen, dass wir unseren Frieden miteinander machen.«

      Gottfried Ruppin fragte sich immer wieder, ob es wirklich eine kluge Entscheidung gewesen war, von Wolfshagen nach Berlin zu gehen. Als Kossät hatte er in der Prignitz ein elendes Leben geführt – zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel –, aber wenigstens hatte er in frischer Landluft schuften dürfen, während es in Berlin mit dem Mief immer schlimmer wurde, seit die Fabriken wie Pilze aus dem Boden schossen. Das wäre nun das Letzte für ihn gewesen, bei Schwartzkopff oder Borsig Tag für Tag in der Fabrikhalle zu stehen – dann schon lieber Straßen- oder Hochbau.

      Mit seinem Kollegen Carl Eichstädt kniete er an diesem Tage am Droschkenhalteplatz vor dem Stettiner Bahnhof, um Schäden im Pflaster zu beseitigen. Sie hatten ihren Arbeitsplatz auf Geheiß eines Schutzmannes mit einigen Dachlatten ordnungsgemäß abgesperrt, bildeten aber gerade dadurch für alle Fußgänger ein erhebliches Hindernis und wurden von den Gepäckträgern und ankommenden Reisenden teils übel beschimpft.

      »Passt bloß uff, ihr …!«, drohte Carl. »Sonst begehe ick heute noch mein ersten Mord!«

      Gottfried Ruppin machte eine Handbewegung, die seinen Kollegen beschwichtigen sollte. »Nich so laut!« Der andere hatte nämlich schon einige Male wegen verschiedenster Roheitsdelikte im Zuchthaus gesessen, und bei der letzten Verhandlung hatte der Richter ihm angedroht, ihn für immer einzubuchten, sollte er sich noch einmal etwas zuschulden kommen lassen.

      »Ach, halt’s Maul!« Carl warf eine schwere Gehwegplatte so heftig in den lockeren weißen Sand, dass diese viel zu tief einsackte und er sie wieder anheben und neuen Sand aufschütten musste, um den Schaden zu beheben.

      Gottfried Ruppin konzentrierte sich auf sein kleinteiliges Pflaster. So einfach, wie es den Eindruck machte, war es nämlich gar nicht, einen Bürgersteig so herzurichten, dass er halbwegs glatt aussah. Nicht jede Unebenheit ließ sich später mit einer Walze oder einem Stampfer wieder ausgleichen. Und waren die Fugen zwischen den Steinen zu groß, kippten die Steine, wenn sie stark belastet wurden, zur Seite, und es gab bald ein großes Loch, denn kein richtiger Junge ließ sich die Gelegenheit entgehen, Steine aufzuklauben, wenn sie locker waren. Man konnte mit ihnen etwas bauen, man konnte sie als Wurfgeschosse benutzen. Dies ging Ruppin durch den Kopf, während er nach passenden Steinen suchte und sie dann mit einem leichten Hammerschlag zu den anderen in den Boden versenkte, immer abgelenkt durch die Menschen, die an ihm vorübereilten: Männer, die sich wichtig machten, Frauen, die zu schön waren, als dass er sie nicht bestaunt hätte. Wer auf dem Stettiner Bahnhof ankam und viel Gepäck bei sich trug, musste sich bei einem Schutzmann eine Droschkenmarke aus Blech beschaffen. Ohne Gepäck hatte man eine Marke 1., mit Gepäck eine 2. Klasse zu verlangen. Das aufgegebene Gepäck besorgte dann der Gepäckträger und rief am Droschkenhalteplatz laut die Nummer der Droschke. Die Marke hatte man dem Kutscher nach Besteigen des Gefährts auszuhändigen.

      »Mistsau, du!«, fluchte Carl, denn eines der Droschkenpferde hatte, bevor es lostrottete, noch schnell abgeprotzt und eine fette Ladung Mist neben ihm aufs Pflaster gesetzt. Es spritzte bis zu seinen Hosenbeinen.

      »Wenn die richtigen zu teuer sind, bleiben uns nur die Pferdeäppel«, sagte Gottfried Ruppin und legte dann, indem er sich ein wenig aufrichtete, die Hand an den Mützenschirm, denn den jungen Bankangestellten, der da aus der Bahnhofshalle kam, kannte er gut. »Hallo, Herr Bernstein!«

      Eduard Bernstein, der später als Theoretiker des revisionistischen Flügels der SPD bekannt werden sollte, freute sich über das Echo der arbeitenden Masse und grüßte zurück.

      Gottfried Ruppin hatte ihn im Frühjahr als Dozenten im Arbeiterbildungsverein in der Seydelstraße 8 erlebt, gleich am Spittelmarkt. Der Verein der Freunde der Gerechtigkeit, den die meisten als Mohren-Club kannten, weil er in einem Bierlokal in der Mohrenstraße tagte, hatte ihn gegründet, durchweg linksliberale Studenten und Referendare.

      Schon früh tauchte der Name Gottfried Ruppin in den Akten der Abteilung VII auf, der politischen Polizei, genauer gesagt am 31. Juli 1872. Damals war er, gerade siebzehn Jahre alt geworden, im Berliner Osten im wahrsten Sinne des Wortes auf die Barrikaden gegangen. Er hatte in der Kleinen Andreasstraße gewohnt und wie alle Arbeiter ringsum unter den elenden Wohnungen, dem Mietwucher und den Zwangsräumungen gelitten. An der Ecke Blumen- und Krautstraße hatten sich viertausend Arbeiter zusammengefunden – »zusammengerottet«, wie es in den Polizeiberichten hieß –, um gegen die Hauswirte zu protestieren. Als man einigen von denen die Scheiben eingeworfen hatte, war die Polizei angerückt – und mit einem Steinhagel empfangen worden. 159 Demonstranten waren durch Säbelhiebe verletzt, 80 verhaftet worden, unter den Letzteren auch Gottfried Ruppin. Vor Gericht war er nicht gekommen, aber ein Stellmacher, ein Droschkenkutscher, ein Maurer, ein Schlosser und ein Appreteur waren zu je viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden.

      Glück hatte er auch am 18. März 1873 gehabt, dem 25. Jahrestag der Berliner Märzrevolution. Damals war er zusammen mit zwanzigtausend Lassalleanern vom Gartenlokal der Aktienbrauerei Friedrichshain zum Friedhof der Märzgefallenen gezogen und hatte mit entblößtem Haupt die »Arbeiter-Marseillaise« gesungen. Da die Obrigkeit die Demonstration nicht genehmigt hatte, gab es am Landsberger Thor eine Säbelattacke der berittenen Polizei. Die Arbeiter flüchteten zwar, konnten aber die Polizisten mit einem Steinhagel in Schach halten. »Ich bin jetzt mehr Steinwerfer als Steinsetzer«, sollte Gottfried Ruppin am Abend erklären.

      Sein drittes großes Recontre mit der Polizei hatte er am 19. März 1877 an der Landsberger, Ecke Lichtenberger Straße. Angefangen hatte alles am Alexanderplatz, wo polnische Arbeiter dabei waren, zu Niedrigstlöhnen die Schienen der neuen Pferdebahn zu verlegen. Das wollten sich die Berliner Arbeitslosen nicht gefallen lassen. Etwa zweitausend von ihnen, darunter auch Gottfried Ruppin, besetzten den Platz, um die Gleisbauarbeiten zu verhindern. »Wir wollen Arbeit haben!«, riefen sie. »Lieber lassen wir uns einsperren, als dass wir verhungern!« Wieder war die berittene Polizei zur Stelle und trieb die Menge vor sich her.

      »Feierabend!«, rief Carl Eichstädt und machte sich daran, die Gerätschaften in eine kleine Bude zu tragen und einzuschließen. »Kommste mit, ’n Bier saufen?«

      »Nee danke, ich treff mich mit Paula.«

      Carl lachte. »Steck ’n schönen Gruß mit rein!«

      Gottfried

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