Chancenmanagement in der Krise. Gerhard Seidel
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g. Entlernen lernen
Wenn es stimmt, dass Unternehmer und Führungskräfte keine Erfahrungen mit weltweiten Krisen haben und nur auf ihr Wissen und die in ihrem beruflichen Leben gewonnenen Erkenntnisse zurückgreifen können, dann ist es wichtig zu entlernen.
Erfahrungen werden in bestimmten Situationen gemacht. Sie sind nur dann hilfreich, wenn die Situation, in der wir dieses Wissen anwenden wollen, vergleichbar ist. Doch das ist leider nicht immer der Fall. Erst recht nicht in der jetzigen, wirtschaftlich prekären Konstellation.
Ja, oft sind solche Erfahrungen und Überzeugungen nicht nur nicht brauchbar, sondern sie sind kontraproduktiv bzw. schädlich. Nämlich dann, wenn wir keine besseren Alternativen kennen, die der Entscheidungssituation mehr Rechnung tragen als unbrauchbare Kenntnisse aus vergangenen Erlebnissen.
Denn mit unseren Entscheidungen schaffen wir unsere Wirklichkeiten. Diese Wirklichkeiten, welche wir aufgrund unserer Bildung, Einsichten, Überzeugungen, Kenntnisse, Glaubenssätze, unseres Wissen usw. entscheiden bzw. kreieren, sind etwas sehr Persönliches und Subjektives. Die gute Nachricht ist, dass wir diese Sichtweisen in jedem Augenblick unseres Lebens neu überdenken und neu erfinden können. Die schlechte Nachricht ist: Unseren oft falschen, unbrauchbaren oder unvollständigen Erfahrungsschatz und die verinnerlichten Ansichten (Vorurteile) zu beeinflussen, zu korrigieren oder gar zu eliminieren, um so das Richtige aus den sich im Leben bietenden Möglichkeiten auszuwählen, ist eine der schwierigsten Aufgaben – nicht nur für Manager – überhaupt.
Eine gute Bekannte ist psychologische Psychotherapeutin. Zu ihr kommen Menschen, die in inneren und äußeren Verhältnissen leben, die meist so schlimm sind, dass man von krankhaften Zuständen sprechen kann.
Was macht sie, um diesen Patienten zu helfen? Sie „entlernt“ diese Menschen! Sie befreit sie von falschen Überzeugungen und Annahmen, die Partnerschaften zerbrechen oder Süchte entstehen lassen. Sie hilft ihnen, die negativen Emotionen von traumatischen Kindheitserlebnissen zu entkoppeln und gibt ihnen Hilfe zur Selbsthilfe. Im Mittelpunkt der Therapie steht, nach Einsicht in Ursachen und Entstehungsgeschichte ihrer Probleme gemeinsam mit den Patienten neue Einstellungen und lebensfrohe Verhaltensweisen zu erarbeiten, die eine bessere Lebensqualität ermöglichen.
Entlernen, bewusstes Vergessen, ist also möglich – auch in einem Unternehmen! Dafür braucht man keine Therapeuten, aber man sollte trotzdem einige Besonderheiten und Regeln beachten, die nachfolgend kurz skizziert werden.
Wir gehen viel zu oft davon aus, dass Führungskräfte oder Mitarbeiter mit einer – bildlich gesprochen – leeren Schüssel zum Seminar, zur Mitarbeiterbesprechung oder zum Workshop kommen. Zu oft wird unterstellt, dass die Menschen für alles Neue offen sind (zugegeben, das unterstelle ich als Autor dieses Buches auch). Doch der Wissensnapf, der (Er)Kenntnisbehälter, ist bereits voll. Gefüllt mit bewährtem Wissen, mit Erfahrungen oder verlässlichen Fertigkeiten, da passt gar nichts mehr rein. Der neue Lehrstoff, die alternative Strategie, die neuen Methoden haben keinen Platz. Das Neue – das vielleicht tatsächlich Bessere – läuft über, wird zum Abwasser. So wird das Lernen zur Mühsal für alle Beteiligten. Das neue gewünschte Verhalten kann sich nicht entwickeln und etablieren, weil das vorgetragene Wissen, die neuen Regeln, die zu lernenden Fertigkeiten in Konkurrenz zu dem Bewährten stehen.
Man müsste den Wissensnapf erst einmal leer machen oder zumindest wahrnehmen und akzeptieren, dass der Mensch in der Vergangenheit schon vieles gelernt und genutzt hat, was er braucht, um seine Arbeit gut zu erledigen, bevor man den Behälter wieder füllt.
Eine oft nicht erkannte Aufgabe des Managements ist es, das bewusste, das absichtliche Vergessen von überholtem Wissen zu initiieren, die Mitarbeiter anzuhalten, unbrauchbare Erfahrungen oder überholte Überzeugungen wahrzunehmen und zu korrigieren, damit diese falschen Entscheidungsgrundlagen keinen Schaden mehr anrichten können. Neben dem Wissensmanagement ist auch dem Vergessensmanagement mehr Bedeutung zu geben.
Vera Birkenbihl hat in einem ihrer Bücher eine Geschichte von vier Affen in einem Zoo erzählt, die in ihrem neuen Käfig eine Kletterstange hatten, an deren Ende eine Bananenstaude baumelte. Das Problem war, dass immer dann, wenn sich ein Affe der Bananenstaude näherte, dieser eine kalte Dusche bekam. Alle Affen probierten es aus und aufgrund ihrer Erfahrungen kletterte nie mehr einer der Affen die Stange hinauf, um die Bananen zu pflücken. Das Erleben hatte ihnen gezeigt, dass sie ihr Ziel so nicht erreichten.
Als ein neuer Affe hinzukam, wollte dieser sofort die Stange hochklettern und die Bananen holen, doch seine Affenbrüder hinderten ihn daran. Denn sie hatten ja so ihre Erfahrungen. Was die Affen nicht wussten, war, dass die Dusche inzwischen abgestellt worden war.
Ich möchte die Geschichte weitererzählen. Es kam noch ein junger Affe dazu, und ehe die alten Insassen im Käfig überhaupt reagieren konnten, war er die Stange hinaufgeklettert und hatte sich die Bananen geholt. Mal abgesehen davon, dass seine Affenkollegen ziemlich sauer waren, dass der Neue jetzt die Bananen verzehrte, mieden sie ihn auch in Zukunft, weil er sich nicht an die Spielregeln gehalten und ihre hilfreichen Erfahrungen einfach ignoriert hatte.
Lernen und Vergessen, Umlernen und Entlernen sind keine Prozesse in Gruppen, sondern werden von jedem Einzelnen vollzogen. Wir können nicht erkennen, ob ein Mensch lernt oder verlernt. Nur an seinem veränderten Verhalten, an seinen neuen Entscheidungen können wir erkennen, ob ein (Ver)Lernverhalten stattgefunden hat.
Nach unserer „Überzeugung“ gibt es in einem Unternehmen fünf Möglichkeiten, sich von überholtem Wissen, falschen Überzeugungen und unbrauchbaren Erfahrungen zu befreien:
• Das normale Vergessen – Man muss nur lange genug warten (dann hat der Kunde vergessen, dass wir einmal …).
• Das Verhindern von Lernen – Man sorgt rechtzeitig dafür, dass man Unbrauchbares gar nicht erst lernt (etwa 80 Prozent aller E-Mails müssen wir nicht lesen, sie sind Schrott …).
• Das Umlernen, indem man neue Erfahrungen macht und die alten sich als nicht nützlich erweisen (wir haben den Chef ganz anders kennengelernt, als wir einmal mit ihm gemeinsam …).
• Das Umlernen durch bewusste Manipulation – Der falsche Glaubenssatz wird in einen anderen Kontext gestellt und/oder es werden Alternativen aufgezeigt und/oder die vorhandenen Informationen sinnvoll ergänzt (ein Trainer macht deutlich, welche Konsequenzen eine bestimmte Überzeugung hat, und wir üben neue, bessere Umgangsformen mit ihm ein …). Das Neurolinguistische Programmieren (NLP) ist eine bewährte Methode, dies zu praktizieren.
• Das bewusste Löschen (aktives Verlernen) von unnützen Erfahrungen und falschen Überzeugungen (z. B. durch Rituale, psychotherapeutische Methoden und Praktiken, die sich bewährt haben).
Unser Wissen ist vergangenheitsorientiert. Mit einer globalen Krise haben wir keine Erfahrungen, gerade in der momentanen Situation ist deshalb das Entlernen wichtig. Ein bewusst initiierter Entlernprozess kann helfen, zu einer konstruktiven Unzufriedenheit mit den derzeitigen Situationen bzw. den herrschenden Umständen zu gelangen und neue Ideen und Strategien zur Vorbereitung und Bewältigung zu entwickeln. Dieses Buch soll Ihnen dabei helfen, selbst zu entlernen und Entlernprozesse bei Ihren Mitarbeitern und Geschäftsfreunden zu initiieren.
So manche Idee und einige Handlungsalternativen des Chancenmanagements sehen Sie vielleicht vollkommen anders, sie widerspricht Ihrem eigenen Verständnis von Unternehmensführung und betriebswirtschaftlicher Ausbildung. Wenn dies so ist, dann fängt auch für Sie das Entlernen und Neu-Lernen an, nämlich das Infragestellen von vorhandenem Wissen und Kenntnissen. Dass es schwierig ist zu entlernen – Therapeuten brauchen dazu mit ihren