Der Actinidische Götze. Matthias Falke
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Читать онлайн книгу Der Actinidische Götze - Matthias Falke страница 5
Großmeister Tsen stutzte einen Moment. Dann griff er Jennifers Hände und drückte sie, während ihm aufrichtige Freude in die Augen trat.
»Ist das wahr?!«, rief er mit zarter Fistelstimme.
»Seit genau zehn Tagen«, antwortete sie fröhlich. »Strenggenommen ist das hier unsere Hochzeitsreise.«
»Was heißt ‚strenggenommen’?«, warf ich ein, aber sie brachte mich mit einem winzigen Stirnrunzeln zum Schweigen.
Dennoch waren mein Ausfall und ihre Reaktion dem Lama nicht verborgen geblieben. Indem er das Lächeln beibehielt, ihre Hände jedoch wieder freigab, erkundigte er sich:
»Ich darf doch hoffen, dass Sie die Wallfahrt zu den Heiligtümern von Loma Ntang dennoch keusch angetreten und vollzogen haben.«
»Ich habe«, erwiderte sie ernst, »die Pilgerreise genutzt, mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften auf das Mysterium von Gu Tsechu vorzubereiten.«
Das musste er gelten lassen. Als Mann der Religion wusste er, dass man nicht in alle Dinge bis zur letzten Deutlichkeit eindringen kann und soll. Ich beschloss trotzdem, Jennifer in Zukunft das Wort und den Vortritt zu lassen, solange wir als persönliche Gäste des Lamas in Loma Ntang waren. Nicht, weil mir daran gelegen wäre, den Alten hinters Licht zu führen oder ein Lügengebäude vor ihm zu errichten, sondern im Gegenteil, weil ich von seiner absoluten Integrität überzeugt war und ihn nicht durch meine Gegenwart, die für ihn die eines Unreinen sein musste, in weitere Konflikte stürzen wollte. Ich wusste, dass Jennifer ihn, ohne darin einen Widerspruch zu ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung zu sehen, als einen Heiligen ansah, und obwohl ich außerstande war, diesen Glauben im wörtlichen Sinne zu teilen, respektierte ich die Verehrung, die sie ihrem alten Trance-Meister entgegenbrachte, wie auch die Persönlichkeit des Lamas selbst.
Das Kloster, eine Bergfestung, in der über eintausend Mönche residierten, befand sich im Belagerungszustand. Jedes Zimmer, jeder Raum, jeder Gang der Burg und der angrenzenden Gebäude war von Pilgern belegt. Eine einzige zusammenhängende Zeltstadt umgab die Große Gompa und zog sich nach allen Seiten die Hänge des pyramidenförmigen Berges hinunter, auf dessen Spitze das Heiligtum errichtet war. Die zuletztgekommenen Pilger mussten am Fuß des Berges, mehrere Wegstunden unterhalb des Klosters, campieren. Sie würden sich morgen, am Tag des Gu Tsechu-Festes, schon kurz nach Mitternacht aufmachen müssen, um rechtzeitig zum Beginn des großen Ereignisses einzutreffen.
Nach der kurzen, kaum viertelstündigen Audienz musste Tsen Resiq uns entlassen. In dichter Folge musste er die Nuntiaten und Würdenträger der anderen Klöster empfangen, die alle den beschwerlichen Weg heraufgekommen waren. Er versprach uns jedoch, sich nach dem Fest noch einmal eine Stunde Zeit für uns zu nehmen. Wir verabschiedeten uns, wobei Jennifer sich vor ihm niederwarf und ihm die Hand küsste, während ich es bei einem knappen Diener bewenden ließ. Danach führte sie mich durch die weitläufige und verwinkelte, in ihrem Inneren völlig labyrinthische Anlage. Das Zentrum der Klosterstadt war der Ehrenhof, ein riesiges Atrium, in dem bei anderen Festen die tausend hier ansässigen Mönche ihre ausschweifenden Maskenspiele aufführten. Morgen würden hier zehntausende Pilger zusammengepfercht der Enthüllung des Actinidischen Götzen entgegenfiebern, vom gepflasterten Karree des Hofes aus, von den ringsum ansteigenden Tribünen, Logen und Balkonen und selbst von den Dächern der angrenzenden Gebäude. Die Nordseite des Ehrenhofes wurde von der Halle des Großen Opfers eingenommen, zu der eine breite Freitreppe hinaufführte. Wir stiegen zum Portal der Opferhalle, das mit schwarzen Tüchern verkleidet war, und zogen die Schuhe aus. Ich ging in Strümpfen hinein, denn die Halle war ungeheizt, schattig, und der Boden war ganzjährig gefroren. Jennifer betrat den dunklen, in seinen Abmessungen kaum abzuschätzenden Raum trotzdem barfuss. Die Stirnseite der Halle wurde von der 108-armigen Kolossalstatue des Ava Kiteshvar eingenommen, des obersten Bodhisattvas des Prana-Bindu-Ordens, als dessen 14. Inkarnation Tsen Resiq selbst galt. Während Jennifer vor der Statue niederkniete und in einer kurzen Meditation verweilte, ging ich geräuschlos abseits und sah aus einem der wenigen winzigen Fenster, die in die Seitenwände der riesigen Halle eingelassen waren. Durch die von Sand verkratzten und vom Staub getrübten Scheiben sah ich über die Landschaft hinaus, deren Grelle und Weite im Kontrast zu der finsteren Opferhalle kaum fassbar war. Die große Kette des Ilaya lag jetzt im Süden, weit entfernt und doch zum Greifen nahe in der dünnen wolkenlosen Luft. Wir sahen die Nordseite des Gebirges, die nur gering vergletschert war und daher noch kälter, nackter und abweisender wirkte. Ich begriff, dass ein langer Aufenthalt an diesem Ort, zumal wenn sich der Rummel der Pilger wieder gelegt haben würde, den Geist läutern und reinigen würde, bis seine Substanz in schlackenloser Klarheit zutage treten würde. Dann stand man unmittelbar dem reinen Sein gegenüber.
Obwohl ein Zimmer des Gästetraktes für uns reserviert war, zogen wir es vor, auch diese Nacht in unserem Zelt zu verbringen. Den Raum überließen wir einer ärmlichen Pilgerfamilie, die mit ihrer vielköpfigen Kinderschar, zwei Tragtieren und einem Mundvorrat von lebenden Ila-Gänsen in die wenigen Quadratmeter Einzug hielt. Auf der Nordseite des Gebäudes, wo der Berg steil in die Tiefe stürzt und sich daher nur wenige Pilger niedergelassen hatten, fanden wir noch genügend Platz, um unsere Kuppel aufzuschlagen. Jennifer hatte sich die Ermahnung des Lamas so weit zu Herzen genommen, dass sie erklärte, sie würde zumindest in den zwei oder drei Tagen, die wir hier oben zubringen würden, auf keinen Fall mit mir schlafen. Stattdessen nahm sie nach dem Abendessen Meditationshaltung ein und versenkte sich in eine gut einstündige Trance, während der sie nicht die leiseste Bewegung erkennen ließ und sogar ihre Atmung unter die Schwelle der Wahrnehmbarkeit reduziert hatte. Ich hatte vor dieser Reise nicht gewusst, dass sie ihre Sympathie für diese Religion so ernst nahm. Meines Wissens bezeichnete sie sich nicht als Gläubige im strengen Sinn, und sie hatte die Zugehörigkeit zum Prana-Bindu-Orden nicht in ihre Papiere eintragen lassen. Ich war also davon ausgegangen, dass die Ausbildung, die sie im Anschluss an die Akademie hier absolviert hatte, und das regelmäßige Training, das sie seither durchführte, vor allem der Steigerung der Konzentration, der Körperbeherrschung, der Reaktionsschnelligkeit und all der anderen Fähigkeiten diente, die für sie als Explorer-Pilotin unverzichtbar waren. Jetzt sah ich, dass doch mehr dahinter steckte, und freute mich, nach zehn Tagen Ehe, der eine zwanzigjährige Verlobungszeit vorausgegangen war, noch neue Seiten an ihr kennen zu lernen.
Als sie sich aus der Trance gelöst hatte, gab sie mir eine Einführung in das Wesen des Gu Tsechu-Festes, die mir selbständig anzueignen ich in den vergangenen Tagen versäumt hatte.
»Im Mittelpunkt steht der Actinidische Götze«, begann sie.
»Das weiß ich bereits«, gab ich vorlaut zurück.
Sie reagierte nicht einmal auf diesen Einwurf, aber die tiefe Gesammeltheit ihrer Miene verkündete überdeutlich, dass sie in dieser Sache keinen Spaß verstand.
»Der Götze«, fuhr sie fort, wobei ihr Blick durch mich hindurchging und auf unbestimmte Fernen gerichtet war, als sehe sie von der obersten Stufe der Freitreppe der Großen Halle des Opfers über den Freihof und die niedrigeren Gebäude der Südseite bis zur tiefen Kerbe der Kaliganschlucht und der Ilaya-Kette hinaus. »Der Götze ist der heiligste Gegenstand des Universums. Genau genommen gehört er nur zum Teil diesem Universum an. Teilweise gehört er schon der anderen Welt. Wie ein Schlüssel, oder besser gesagt ein Schlüsselloch verbindet er dieses Universum mit dem anderen, den physischen Kosmos mit dem metaphysischen. Er ist ein zugleich empirischer und transzendentaler Gegenstand. Wer ihn erblickt, der sieht unmittelbar die Rückseite des Seins, die andere Welt, in die er im Pranavana eingehen wird.«
Sie schwieg. Ihre Augen suchten den Horizont nach erhabenen Geschehnissen ab.
»Mhm«, machte ich im aufrichtigen Versuch,