Der Actinidische Götze. Matthias Falke

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Der Actinidische Götze - Matthias Falke

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verstummt. Der Lama murmelte einige Verse, und obwohl er über hundert Meter von uns entfernt stand, konnten wir jedes Wort vernehmen. Er legte die Handflächen ineinander, schloss die Augen, berührte mit den Fingerspitzen die Stirn und legte dann beide Hände flach auf die Schatulle. Plötzlich, aus einem Moment der Sammlung aufzuckend, öffnete er mit einer raschen Bewegung die beiden Flügel der Schatulle, griff hinein und nahm einen Gegenstand heraus, den er mit beiden Händen hoch in den Himmel stieß.

      Ein Raunen ging durch die Menge, etwas wie ein chorisches Atmen. Die Zehntausend waren nur noch ein einziges Wesen, über dem der Rhythmus des Lebens flutete, verebbte, neu anschwoll und sich brach wie die Dünung eines abendlichen Ozeans. In einer feierlichen unio mystica hoben und senkten sich die Brüste der zahllosen Pilger, während ihre Blicke in einem Punkt zusammenschmolzen, dem Actinidischen Götzen, den Tsen Resiq der Gemeinde und dem Himmel präsentierte. In diesem Augenblick veränderte sich das Licht. Es wurde fahl. Obwohl es nicht eigentlich dunkel wurde, verloren die Gegenstände mit einemmal alle Farbe. Das Raunen und Stöhnen der Menge gewann an Kraft und Intensität. Etwas wie ein Schlagschatten legte sich über die Szene, das Echo eines gewaltigen schwarzen Tuches, das dem Licht allen Glanz und alle Resonanz nahm. Hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben? In den sechs Tagen, die wir seit der Durchquerung des Tors des Todes auf der Nordseite der Ilaya-Kette zubrachten, hatten wir nicht den Anflug einer Wolke am Himmel gesehen. Und plötzlich wusste ich, was geschehen war. Es wäre sogar vorhersehbar gewesen. Innerlich verfluchte ich mich selbst dafür, dass ich mich so nachlässig auf das Ereignis vorbereitet hatte, und ich nahm mir vor, Jennifer, sowie sie wieder ansprechbar geworden sein würde, dafür zur Rede zu stellen, dass sie mich nicht vorgewarnt hatte. Das Atmen der Menge wurde ruhiger, langwelliger und zugleich schwerer. Es war das tiefe Atmen einer Frau, die im warmen Wasser eines Gebärbeckens sitzt und zwischen den Wehen Luft schöpft, weil sie weiß, dass jetzt gleich der Schädel ihres Neugeborenen hervortreten muss. Die Szenerie war wie eingefroren. Niemand bewegte sich. Tsen Resiq war, mit dem Kultobjekt auf den emporgereckten Händen, zu einer Statue erstarrt, zu einem lebenden Postament, das allein der Präsentation des Allerheiligsten diente. Das helle unwirkliche Grau, das über allem lag, vertiefte den Eindruck eines aus aller Zeit und Realität herausgefallenen Augenblicks, einer ewigen Sekunde, die aus dem Fluss der Vergänglichkeit herausgelöst, abgeschnitten und sich selbst überlassen war. Ich bereute, dass ich den optischen Feldstecher nicht mitgenommen hatte, der sich wie eine Brille auf der Nase tragen ließ, aber Jennifer hatte es untersagt. So musste ich versuchen, mir den Götzen mit bloßen Augen einzuprägen, aber ich erkannte nur, dass es sich um eine Statuette handelte, die aus rotem und schwarzem Stein geschnitten und kostbar vergoldet zu sein schien und von der zwei handflächengroße Gebilde wie Flügel abstrahlten. Der Stillstand der Zeit dauerte zwei, vielleicht drei Minuten. Dann riss der Lama den Götzen herunter und ließ ihn mit einer blitzschnellen Bewegung in der Schatulle verschwinden, die im selben Augenblick von den vier hohen Mönchen hinausgetragen wurde. Das Licht nahm wieder seine alte Grelle an. Die Menge stöhnte in einem letzten gemeinschaftlichen Schrei auf und fiel dann wieder zum gewohnten Stimmengewirr auseinander. Einige Kleinkinder begannen zu heulen, eine Frau lachte. Erstaunlich rasch zerstreute sich die Masse. Die Mönche packten ihre Instrumente ein und verschwanden in verschiedene Richtungen. Nach wenigen Minuten war der große Freihof so gut wie ausgestorben. Ich saß als einer der letzten noch an meinem Platz, benommen und ergriffen wie offenbar kaum einer der Gläubigen. Auch Jennifer war schon aufgestanden. Sie strich mir durch das Haar und tätschelte meine Wange, eher kameradschaftlich als zärtlich.

      »Es ist vorbei«, sagte sie. »Du warst Zeuge eines mystischen Ereignisses.«

      »Es freut mich, mein Kind, dass sie nach all den Jahren den Weg nach Loma Ntang gefunden haben, um wieder am Mysterium von Gu Tsechu teilzunehmen.«

      Tsen Resiq berührte Jennifers Stirn in der Geste des Prana-Segens.

      »Das gilt auch für Sie, Commander«, fuhr er fort. »Ich weiß, Sie sind ein Mann der Wissenschaft. Aber der Anblick des Actinidischen Götzen wird auch für Sie nicht ohne Wirkung bleiben.«

      Ich nickte zum Zeichen meiner Zustimmung. Das war sogar ernst gemeint. Die rätselhafte Zeremonie hatte mich durchaus beeindruckt und sogar aufgewühlt. Ich neigte mich vor und gestattete dem alten Lama, auch meine Stirn mit den Fingerspitzen zu berühren.

      Dann nahm er unsere Hände, legte sie ineinander und schrieb mit Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten eine schleifenförmige Bewegung darüber, die bei oberflächlicher Betrachtung auch ein Kreuz hätte sein können. Alle Religionen sind eins, begriff ich, wenn nicht auf dogmatischer Ebene, so doch in der Ehrfurcht vor dem Sein.

      Ich sah wieder den Götzen vor mir, wie Tsen Resiq ihn in den klaren, aber fahlen Mittagshimmel gehoben hatte. Der Kultgegenstand hatte umso intensiver aufgeleuchtet, je mehr die gesamte Umgebung grau und matt geworden war, als habe er alle Farbe des Universums in sich aufgesogen, um sie nach einem Innehalten unbestimmter Zeitdauer wieder in den Kosmos hinauszuschleudern, der daraufhin prächtiger und prangender erstrahlte als zuvor.

      Der Alte gab unsere Hände frei. Er legte die Linke auf Jennifers Schulter, die Rechte auf meinen Oberarm, so dass wir ein Dreieck bildeten. Wir verharrten einige Sekunden in dieser Aura der Nähe und Aufgehobenheit. Dann trat der 14. Avatar Ava Kiteshvars einen Schritt zurück und musterte uns verschmitzt. Alle Feierlichkeit wich von seinem hundertjährigen Runengesicht, als er uns fröhlich zuzwinkerte.

      »Kommen Sie beide so bald wie möglich wieder. Warten Sie keine zehn oder zwanzig Jahre ab, und kommen Sie nicht, wenn eines der großen Klosterfeste meine Aufmerksamkeit beansprucht. Dann haben wir Zeit, uns ausführlich und ungezwungen zu unterhalten.«

      »Das werden wir tun, Ehrwürdiger Lama«, sagte Jennifer.

      Ich murmelte ebenfalls eine Floskel der Zustimmung. Stille breitete sich im Empfangsraum aus, wo Tsen Resiq zwischen dunklen Holztäfelungen und farbenfrohen Seidenampeln Audienz gab. Ich bemerkte, dass sein Blick zu den Mönchen wanderte, die im Eingangsbereich der Halle darauf warteten, die nächsten Gäste vorzulassen, denn auch an diesem Tag gaben sich die Würdenträger die Klinke in die Hand, um sich vom Oberhaupt des Prana-Bindu-Ordens zu verabschieden. Indem ich seinem Blick folgte, fiel mir der schwarze Schrein auf, der an der Längsseite des Saales auf einem Podest aus gelber Seide stand. Es war die Schatulle des Actinidischen Götzen, die man noch nicht wieder an ihren Aufbewahrungsort zurückgebracht hatte, wo sie die nächsten zehn Jahre überdauern würde.

      »Er bleibt noch ein paar Tage hier«, sagte Tsen, dem die Bewegung meiner Augen aufgefallen war. »Die Gäste, die kommen, um sich zu verabschieden, nehmen auch seinen Segen mit auf die Heimreise. Und er gibt mir Kraft durch seine Anwesenheit, selbst wenn er verhüllt ist.«

      Wir mussten gehen. Ich spürte, wie die Zeit schmerzhaft wurde, selbst für den alten Mönch in seiner unermesslichen Geduld und Weisheit, aber Jennifer machte keine Anstalten, den Empfangsraum zu verlassen. Wie stand sie da.

      »Noch ein Wort, Großer Vater der Gläubigen«, bat sie jetzt

      Dieser Beiname Tsen Resiqs war mir bis jetzt nicht geläufig gewesen. Ich begriff aber sofort, dass es sich um eine sehr selten benutzte Bezeichnung handelte, die nur in besonderen Ausnahmefällen zur Anwendung kam.

      Die sternförmigen Fältchen in den Augenwinkeln des Alten waren wie weggewischt. Seine Miene wurde im Augenblick abwartend und ernst. Ich begriff, dass die Ansprache, die Jennifer gewählt hatte, bereits ein Anliegen signalisierte, das alles andere als alltäglich war. Dabei hatte ich keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Selbstverständlich hatte sie mich im Vorfeld mit keinem Wort eingeweiht.

      »Der Götze«, flüsterte sie mit einem Seitenblick zu den Mönchen, die neben der Eingangspforte Wache standen. »Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, vor zwanzig Jahren, und dann wieder bei der gestrigen Enthüllung.«

      Der

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