Irgendwo grünt doch die Liebe. Gisela Gebhard
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Am nächsten Wochenende holt er sein Zauberbild ab, lässt es sich vorsichtig einpacken und packt es zu Hause ganz vorsichtig wieder aus. Er küsst den Mund seiner Schönen, fühlt aber keinen erwidernden Druck ihrer Lippen.
„Alles ein Irrtum“, denkt er und hängt das Bild über den Schreibtisch.
Zum Abendessen brutzelt er knusprige Bratkartoffeln, schlägt sich ein Ei drüber und isst mit Genuss. Anschließend wäscht er ab, räumt das Geschirr ein und setzt sich an den Schreibtisch. Seine Freundin ist übers verlängerte Wochenende zu ihren Eltern gefahren. Er kann also in Ruhe arbeiten. Seine Habilitation soll das Mittelalter von Halle und Umgebung besonders erfassen. Die Halloren genannten Salzwirker sind seit dem 15. Jahrhundert in einer anerkannten Bruderschaft hier vereinigt. Längst steht ihre Geschichte in alten Büchern verzeichnet. Die Übersetzung aus Latein und Mittelhochdeutsch liegt für Interessenten im Lesesaal des Rathauses aus.
Andreas soll die Zeit zwischen den Jahren 1000 und 1200 durchforsten, das Leben von Freien, Unfreien, Bauern und solchen mit Stadtrecht in alten Urkunden suchen, zusammenfügen und lebendig darstellen. Das alte Latein der Mönche und Stadtschreiber ist oft schwer zu verstehen, Umschreibungen und fremde Begriffe tauchen da auf. Auch Fantasie ist gefragt. Weil die Gegend hier früh lutherisch wurde und der Dreißigjährige Krieg hin und her durch das Land gezogen ist, sind alte Klosterbücher und Chroniken kaum noch vorhanden. Andreas hat deshalb weiter nördlich und südlich der alten Salzstraße geforscht da, wo er meinte, das könne interessant sein, hat er Teile von Seiten fotografiert. Die liegen ihm jetzt in Vergrößerung vor. Er sortiert, nimmt seine Schreibmaschine und beginnt mit der ersten Übersetzung.
Als er aufblickt, erkennt er, dass Anna von G. ihm interessiert zuschaut. „Du müsstest mir helfen können. Das ist deine Zeit“, spricht er grinsend hoch zu dem Bild.
In ihrem Antlitz erscheint eine leichte Bewegung. Kann das sein? Weil er’s für ein Spiel hält, spricht er weiter: „Reizend von dir, aber lesen kannst du ja nicht, geschweige Latein.“
Er starrt weiter auf Anna, schaut sehr bewusst hin und ist sich jetzt sicher, dass sich ihr Mund zu einem spöttischen Lächeln verändert.
„Du bist ein Wunder“, flüstert er. „Du bist mein Wunder! Verstehst du Latein?“
Das Lächeln verändert sich wieder, wird zu einem wissenden Lächeln während sich ihre Augen im Blick auf seine Schreibarbeit senken. Er empfindet den Blick nun als Aufforderung, fragt deshalb erstaunend: „Willst du mir helfen?“
Die Andeutung einer Zustimmung antwortet. Dann senkt sich ihr Blick wie zu einem Befehl. Andreas nimmt diesen Befehl an und arbeitet weiter. Die Übersetzung geht jetzt rascher voran als bisher. Schon während des Lesens kann er den deutschen Text in die Maschine tippen. Die Freude wächst mit der Arbeit. Erst kurz nach Mitternacht wird er müde. Da ist sehr vieles geschafft. Er liest, was er schrieb und ist erstaunt über die Formulierungen. Die entsprechen der damaligen Zeit und sind doch ins Heute perfekt übersetzt. Er blickt zum Bild wieder auf, erkennt Müdigkeit in den schönen Augen, bedankt sich für ihre Hilfe und wünscht ›eine gute Nacht‹.
Andreas schläft heute schnell ein. Als der Tiefschlaf vorbei ist, träumt er von Anna. Die wandert in langem Gewand durch die Oberburg, rafft ihren Rock bei den zwei Stufen, die sie in die Kapelle führen. Da betet sie, beichtet, lernt aber auch Latein in einem kleinen Nebenraum, in dem der Kaplan sonst allein seine Bibel studiert.
„Ich helfe dir nur, wenn du schweigst“, sagt sie dann direkt zu Andreas Beschwörend drückt sie eine Hand auf den Mund und verschwindet.
Das Läuten des Telefons reißt ihn aus dem Schlaf. Andreas tastet zum Nachttisch, greift daneben, hat es nach weiterem Tasten endlich am Ohr. Seine Freundin wünscht ihm einen guten Morgen. Die Uhr zeigt bereit kurz nach 10. Ilse wähnte ihn längst bei der Arbeit.
„Du wolltest doch fleißig sein. Ist wohl nix“, meint sie kichernd.
„Doch“, sagt er drauf, „ich habe bis tief nach Mitternacht gesammelte Texte übersetzt und bin weit gekommen.“
„Lob, Lob“, antwortet sie und erzählt, dass sie noch eine Woche zu Hause bleiben muss, weil es ihrer Oma sehr schlecht geht und ihre Mutter die Pflege kaum schafft. Das tut ihm sehr leid. Er verspricht ihr, die Zeit allein gut zu nützen, damit sie bei ihrer Rückkehr dann umso mehr voneinander haben.
„Okay, das ist gut. Ich werde wieder anrufen. Küsschen!“ Dann legt Ilse auf.
Andreas erhebt sich, eilt ins Bad, wäscht sich, zieht sich an und grüßt, als er zur Küche eilt, winkend das Bildnis. Ihre Antwort könnte ein Lächeln sein. Sicher ist Andreas sich nicht.
Gut gestärkt setzt er sich wieder zum Schreibtisch, blickt zu ihr auf und sagt: „Ich habe deine Botschaft verstanden. Ich werde schweigen. Sei dessen gewiss.“
Jetzt lächelt sie deutlich und senkt den Blick wieder nach unten wie einen Befehl. Die Arbeit geht weiter im gleichen Tempo wie gestern. Jetzt weiß er, dass Anna Latein wie ihre Muttersprache beherrscht. Für eine Dame des Mittelalters kaum vorstellbar. Selbst viele Fürsten konnten nicht lesen und schreiben, schickten ihre Söhne zu Mönchen, die ihnen das beibrachten.
Gegen 14 Uhr Pause. Der Befehl von oben drückt deutlich auf seine Hände. Die lässt er sinken, schaut Anna an und bedankt sich. Ihr Blick wirkt verschleiert.
„Wir brauchen eine Ruhepause“, sagt er zu ihr. „Ich habe eine Dose mit Spargelsuppe im Schrank. Die Suppe werde ich zu einem Toastbrot genießen, mich auch etwas ausruhen und dann zusammenstellen, was ich aus den Übersetzungen gebrauchen kann.
Andreas setzt sich dann zum Ordnen seiner Übersetzungen auf die Couch, streicht an, was ihm wirklich ganz neu erscheint und nummeriert diese Angaben. Als er sie zusammenfügend aufschreiben will, wird sein Blick wie zwanghaft nach oben gelenkt. Annas jetzt wache Augen blicken nach links, wo die noch nicht übersetzten lateinischen Auszüge liegen. Also geht die Arbeit jetzt weiter. Am Abend sind alle Übersetzungen in erstaunlichem Tempo geschafft. Gut, dass Andreas die vorher geordneten Auszüge noch nicht zusammengeschrieben hat. Einiges Neue passt jetzt dazwischen.
„Ich danke dir, Anna!“, ruft er und wirft einen Handkuss zum Bild. „Warum tust du das alles für mich?“
Ihr Lächeln verstärkt sich ein wenig und ihre Augen erscheinen feucht. Dann schließt sie die wie zum Schlafen und öffnet sie wieder mit einem andeutenden Kopfnicken. Nur dem Schlafenden wird sie antworten. Er lächelt zurück. Jetzt möchte er müde sein, ist aber nach allem mehr angeregt als erschöpft. Er isst in der Küche etwas, trinkt Apfelsaft und verspürt Lust auf einen Spaziergang.
Der Abend ist kühl und mild. Andreas wandert durch die angrenzen Straßen der Saale zu, genießt die Aussicht über den Fluss, geht die steilen Stufen nach unten und wandert am Ufer entlang. Als jenseits der Brücke auf dem Felsen Giebichenstein in Sicht kommt, bleibt er stehen. Die restaurierten Reste der Oberburg sieht er jetzt als Zeugnis eines Schicksals, das ihm immer noch rätselhaft ist, aber längst menschliche Nähe annimmt.
Andreas