Irgendwo grünt doch die Liebe. Gisela Gebhard
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„Später!“, antwortet Andreas, winkt und verlässt schnell das Geschäft.
Zu Hause enthüllt er den Einkauf. Danach breitet er die Karte ganz vorsichtig auf dem Fußboden vor seinem Schreibtisch aus. Er stellt sich auf einen Stuhl und fotografiert sie mehrmals. Die Bilder sind okay. Nun widmet er sich genau dem Teil, der andeutend die alte Burg drunter zeigt. Er schlägt sehr behutsam die anderen Teile nach hinten. Jetzt passt, was er studieren will, genau auf den Schreibtisch. Die Straßenführung war damals anders als heute. Vieles fehlt ganz. Die Burg liegt am nördlichen Rand. Eigentlich gehörte Giebichenstein damals noch nicht dazu. Der Ort wurde erst im Jahr 1900 ins Hallesche Stadtgebiet eingemeindet.
Andreas genügt, was er sieht. Er braucht das Terrain vor dem Brand. Hat da einer die zarten Konturen nach eigener Fantasie mit eingegeben, oder hat er sie wirklich noch messen können? Fragend blickt Andreas nach oben. Nichts regt sich in Annas Gesicht.
„Bitte“, flüstert er, „bitte, schau her!“
Kein Zeichen entwickelt die Schöne. Vielleicht war das Zeichen schon da; er hat es nur nicht verstanden. Andreas sucht seine Morgennotizen, liest sie so lange, bis er sie auswendig kennt. Dann geht er nach draußen. Die Dämmerung senkt sich bereits. Er versucht von der Burgruine aus den längst verschütteten und nun überbauten Weg zur Kapelle, die es ja auch nicht mehr gibt. Er versinkt in Meditation, erhofft in ihr einen Hinweis. Ruhe kehrt in ihn ein, aber seine Füße werden in keine Richtung gelenkt.
„Du bist verrückt“, denkt Andreas, „nur weil ein lächelndes Antlitz dir Träume geschickt hat, willst du hier Verborgenes ausmachen. Geh nach Hause und denke nach!“
Trotzdem sucht er im letzten Licht noch den Weg in die Unterburg. Ihn treibt der Gedanke, dass eine abfallende Grünfläche einstmals vielleicht ein Stück Burggraben war. Da hat der Priester damals bestimmt nichts vergraben! Schluss mit dem Grübeln!
Die Straßenbeleuchtung führt Andreas auf Umwegen wieder nach Hause. Beim Klingeln des Telefons schließt er die Wohnungstür auf. Ilse begrüßt ihn, will wissen, wie es ihm geht. Er erzählt ihr vom Lob des Professors und dessen Bemerkung dazu. Sie kichert und meint, der Alte könne gut reden, sie aber habe Sehnsucht. Ein paar Tage muss sie noch bleiben. Dann aber will sie kuscheln und möglichst noch mehr! Darauf freut er sich mit ihr, schickt ihr viele Gute-Nacht-Küsse und legt dann auf.
In der kommenden Nacht holt den Andreas kein Traum ein. Er erwacht zeitiger als sonst. Er grüßt Annas Bild über dem Schreibtisch, erhält wieder keine Antwort und eilt früher als sonst ins Institut nahe dem Dom. Wenn er heute sehr zeitig beginnt, kann er auch früher Schluss machen. Bei den Stichworten, die er auswendig lernte, ist ihm in der Nacht aufgegangen, dass Verwaltungsgebäude in Giebichenstein im Schutt der Unterburg liegen, die Keller wenigstens, falls welche vorhanden. Er will sich erkundigen, wo Berichte über die Legung des Grundsteins zu finden sind. Bis 17 Uhr ist heute das Bauamt geöffnet. Gut eine Stunde vorher meldet er sich bei der Auskunft.
Andreas trägt sein Anliegen vor. Der Beamte überlegt und weist ihn zur Registratur. Die Dame dort schüttelt den Kopf. Hier wird registriert, was jetzt geplant, neu gebaut oder verändert wird. Die Baupläne für diese Gebäude hier sind nicht einzusehen. Sie fragt ihn, weshalb er daran interessiert ist. Er erzählt von seiner Arbeit und der vagen Hoffnung, dass man beim Ausschachten etwas fand, das ihm weiter hilft. Sie weist ihn ans Stadtarchiv in der Rathausstraße gleich neben dem Markt. Da ist Andreas schon früher gewesen. Dort finden Touristen, allgemein Interessierte und Schulklassen, das Halle der Neuzeit mit Dom, Marktkirche, Rotem Turm, Händel, Francke, der Saline, Kunsthochschule und Museen.
Die Dame überlegt, ruft dann den Amtsleiter an. Sie berichtet ihm vom Anliegen ihres Besuchers, fragt, ob er helfen kann. Doktor Volkert hört interessiert zu, überlegt und bittet dann zum Erstaunen der Dame den Herrn tatsächlich zu sich. Andreas bedankt sich und sucht nun Zimmer A in der ersten Etage auf.
Der Amtsleiter wollte gerade sein Zimmer abschließen, als der Anruf kam. Nun hat er Zeit. Doktor Volkert hat sich schon immer für Geschichte und speziell die seiner Stadt interessiert. Von der alten Burg, die ja eine der ersten an der Saale war und heute zur ›romantischen Straße‹ gehört, ist vieles bekannt. Dennoch gibt es zeitliche Lücken, die sein Besucher mit einer Promotionsarbeit möglichst füllen soll. Andreas möge ihm bitte erzählen, was er bereits zusammengetragen hat und weshalb er speziell meint, dass gerade hier bei den Ausschachtungsarbeiten alte Unterlagen zerstört oder zu Tage gekommen seien.
Andreas weist auf einige Angaben in seinen Übersetzungen hin. Außerdem wurden die Verwaltungsgebäude an dem noch erhaltenen Stück der alten Ringmauer erbaut. Man kennt die Herrschergeschlechter, weiß aber kaum etwas über die Burgherren hier. Die ›Sage vom Springer‹ wurde längst als Fehler aus einer Lateinübersetzung geortet. Andreas sucht Namen, die ihm vielleicht Schicksale mitteilen. Er weiß um eingemauerte Dokumente in alten Wehranlagen anderer Gegenden. Warum nicht auch hier?
Doktor Volkert will nach den Berichten über die Ausschachtungen suchen lassen. Irgendwo müssen sie ja sein. Dabei fällt ihm aber etwas ganz anderes ein. Sein Vater, im Kriege als Flakhelfer eingesetzt, musste mit 14 Jahren schon Munition zureichen und ab und an selber die Geschütze bedienen. Die Angst saß immer im Nacken. Schlimmer noch empfand er aber die Aufräumarbeiten nach den Bombenangriffen, wenn es Verletzte oder Tote gegeben hatte. Einmal hatte er in einem Scherbenhaufen teilweise zerrissen alte Schriften gefunden. Er brachte sie mit nach Hause. Seine Mutter reagierte entsetzt, weil sie meinte, das seien Schriftstücke aus der von den Nazis zerstörten Synagoge.
„Bring sie bloß weg!“, sagte sie.
Da steckte er diese Reste in Zeitungspapier, klemmte sie unter seine Uniform und ging in den Dom um zu beten, schlich aber dann in den Keller und versteckte alles in dunkler Ecke hinter einem zerbrochenen Tabernakel. Der heute evangelisch-reformierte Dom ist ja eigentlich die alte Klosterkirche der Dominikaner, nur immer wieder renovierte und neu ausgemalt.
„Ich weiß“, antwortet der längst hellhörig gewordene Andreas. „Das historische Institut liegt ja nahe dem Dom. Ich liebe seinen gewaltigen Innenraum ohne Querschiff. Unser Dom ist in seiner stabilen Gewalt für mich einzigartig und ein Stück echtes Mittelalter.“
Dann aber drängt ihn die Frage: „Hat Ihr Vater der neuen jüdischen Gemeinde später die Schriften wiedergebracht?“
„Davon weiß ich nichts. Er hat es nur einmal beiläufig erwähnt. Sie können ja nachschauen, ob sich da noch was findet.“
Bereits am nächsten Tag besucht Andreas den Domprediger in der Kleinen Klaus Straße. Sie sind einander gut bekannt. Andreas hat ihm schon vor Monaten von seiner Arbeit erzählt und die alten Kirchenbücher studieren können, ohne darin Hilfreiches gefunden zu haben. Die neue Geschichte interessiert den Pfarrer natürlich.
„Sie können mit dem Küster da unten gern suchen“, meint er. „Es wurde viel aufgeräumt und auch neu geordnet. Das alte Tabernakel muss es noch geben. Schließlich ist es eine Erinnerung an die Dominikaner.“
Der Küster weiß genau, wo sie suchen müssen. Das Tabernakel ist zwar zerbrochen, aber in den Einzelteilen noch gut erhalten, sollte geschützt werden und erhielt eine Plastikumhüllung. Das Museum wollte es zur Renovierung abholen lassen, hat das anscheinend aber wohl vergessen. Dahinter ganz in der Ecke zeigt sich im Lichte der Taschenlampe tatsächlich etwas, das vom Staub der Jahrzehnte bedeckt, kaum zu erkennen ist. Andreas kriecht hin, umhüllt mit seinem Halstuch den seltsamen Fund, kann ihn so vorsichtig aus der Ecke lösen und an sich nehmen. Der Küster freut sich, dass er hier helfen konnte.
In der Sakristei