Brennpunkt Ukraine. Christian Wehrschütz

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Brennpunkt Ukraine - Christian Wehrschütz

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Ukraine herausbringen. Ich selbst wollte die Veröffentlichung auf den Herbst kommenden Jahres verschieben, weil ich mich wegen der permanenten Berichterstattung für den ORF aus der Ukraine außer Stande sah, ein Buch zu schreiben, das in Form und Qualität den beiden Werken entspricht, die ich über den Balkan veröffentlicht habe. Außerdem lehne ich Schnellschüsse von Journalisten und Publizisten ab, die in eine Krisenregion kommen und dann ihre Erlebnisse in einer inhaltlich eher oberflächlichen Form auf den Markt bringen. Diese Gefahr besteht bei mir im Falle der Ukraine jedoch nicht, obwohl natürlich durch meine Tätigkeit als ORF-Korrespondent am Balkan zwischen meiner Rückkehr nach Kiew im Jänner 2014 und meinem bis dahin letzten Aufenthalt in der Ukraine eine Lücke von vierzehn Jahren klafft. Denn ganz habe ich dieses Land nie aus den Augen verloren, und ich habe mir auch in Belgrad die Kenntnisse der ukrainischen und der russischen Sprache bewahrt, die ich während meiner immer wieder wochenlangen Aufenthalte im Land zwischen April 1992 und Dezember 1998 erworben hatte. In der nunmehrigen Krisenregion Donezk absolvierte ich im Sommer 1992 meinen ersten Russischkurs im Ausland, in der Westukraine (u. a. Tschernowitz) war ich 1993 und 1994. Darüber hinaus erhielt ich vom Bundesheer im Sommer 1994 die Möglichkeit, in mehr als drei Monaten die Ausbildung zum Militärdolmetscher für Russisch und Ukrainisch abzuschließen, und absolvierte im Jahre 1996 an der österreichischen Botschaft in Kiew eine freiwillige Waffenübung in der Dauer von einem Monat als Mitarbeiter des Militärattachés. Schließlich nahm ich noch von Ende Juni bis Mitte August 1997 an der „Ukrainian Summer School“ an der renommierten Harvard Universität in den USA teil. Hinzu kamen viele Fachpublikationen über die Ukraine in den Jahren 1992 bis 1998 – gerade zu den Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland sowie den Beziehungen beider Länder zu EU und NATO.

      Ein besser auf die Ukraine und auf ein Buch vorbereiteter Journalist wird im deutschen Kulturraum nicht leicht zu finden sein. Aber auch diese Grundkenntnisse änderten nichts daran, dass ich mich zeitlich außer Stande sah, zwanzig Kapitel zu schreiben, um das Land in vielen Facetten zu beleuchten. Doch das Argument des Verlages wog schwer, dass die Ukraine jetzt aktuell sei und niemand wissen könne, wie groß das Interesse in einem Jahr sein werde. Die Berichterstattung in fast allen Medien leidet aus vielen Gründen an einem Mangel an Kontinuität; wie sehr haben Libyen und Ägypten noch vor ein, zwei Jahren dominiert, wie gering sind im Verhältnis dazu nun die Berichte über diese Länder. Der neue Krisenherd verdrängt den alten, weil Sendezeit in elektronischen Medien und der Platz in Zeitungen natürlich ebenso begrenzt sind wie die Zahl der Journalisten. Gerade die Ukraine hat seit ihrer Unabhängigkeit im August 1991 in der Regel ein mediales Schattendasein geführt, sieht man von der de facto gescheiterten „Orangenen Revolution“ des Jahres 2004, dem 20. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und der Fußball-EM des Jahres 2012 ab. Die Vernachlässigung des, von Russland abgesehen, flächenmäßig größten Landes in Europa habe ich stets für falsch gehalten. Auch das war schließlich ein guter Grund, doch ein Buch über die Ukraine herauszubringen. Abgesehen von meiner Einleitung hier ist das Werk in Form von Interviews gestaltet. Sie beleuchten nicht nur historische und aktuelle politische Entwicklungen der Ukraine, sondern beschreiben darüber hinaus das Leben von Menschen, die mir bei meiner Berichterstattung begegnet sind und mir – wie die Familie der Verkäuferin aus der Stadt Torez – geholfen haben, aus gefährlichen Situationen heil herauszukommen.

      Die Gesprächspartner dieses Buches sind sowohl bewusst gewählt als auch das Ergebnis eines Zufalls oder Schicksals. Bewusst gewählt habe ich natürlich die historischen und politischen Persönlichkeiten: Dazu zählen der erste ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk, der dritte Präsident der Ukraine Wiktor Juschtschenko, der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin, der letzte Botschafter der USA in der Sowjetunion, Jack F. Matlock, der ein monumentales Werk über den Zerfall der Sowjetunion geschrieben hat, Ina Kirsch zum Thema EU sowie die politischen und militärischen Akteure auf der Seite der ukrainischen Freiwilligen und der prorussischen Rebellen. Die „normalen“ Menschen sind in ihrer sozialen und geographischen Streuung bewusst gewählt, die konkreten Gesprächspartner aber eben das Ergebnis des Zufalls oder Schicksals, das uns in der Ukraine zusammengeführt hat. Nur ein proukrainischer Interviewpartner in Donezk bestand aus Sicherheitsgründen auf Anonymität, sodass weder ein Bild veröffentlicht noch ein Name genannt wird. Mein Hauptziel war es, allen Personen ein guter Zuhörer zu sein, ihren Lebensweg und ihre konkreten Lebensumstände zu verstehen, um sie dem Leser deutlich machen zu können. Über den Lebensweg der Menschen, hoffe ich, wird die Leserin auch ihr Wissen über die Ukraine vertiefen können. Natürlich habe ich die Meinungen und Äußerungen aller Gesprächspartner so wiedergegeben, wie sie gefallen sind; das gilt auch für Haltungen, von denen ich glaube, dass sie falsch sind, denn es geht nicht um meine Ansichten, sondern um die der Gesprächspartner. Korrigiert haben wir nur Fehler, die etwa Angaben zu Jahreszahlen betroffen haben.

      Dieses Buch ist nicht DAS Ukraine-Buch, das ich ursprünglich schreiben wollte. Themen wie der Massenmord Stalins an drei bis sechs Millionen Ukrainern durch eine künstlich herbeigeführte Hungersnot („Holodomor“) konnten ebenso wenig in einem eigenen Kapitel behandelt werden wie eine Reportage aus Tschernowitz, das in der Monarchie den Beinamen „Klein-Wien“ trug und in dem die letzte Universität der Habsburgermonarchie gegründet wurde. Auch über Taras Schewtschenko, den Nationaldichter der patriotischen Ukraine, konnte ich nicht schreiben, dessen 200. Geburtstag im Jahre 2014 gefeiert wurde. Im Gegensatz zum albanischen Volk – durch den (völlig aus seinem historischen Kontext entrückten) Nationalhelden Skanderbeg – fehlt den Ukrainern insgesamt eine historische Persönlichkeit oder ein historisches Ereignis, das für die Bevölkerung in allen Landesteilen identitätsstiftend wirken könnte. Auch die Schilderung meiner persönlichen Erlebnisse in diesem Jahr, von der Rückkehr nach Kiew auf den Maidan, die anschließende Berichterstattung über die Abtrennung der Halbinsel Krim und meine Eindrücke und Erlebnisse in der Ostukraine auf meinen Fahrten durch das Kriegsgebiet zwischen Donezk und Lugansk sind aufgeschoben, aber, so hoffe ich, nicht aufgehoben. Dennoch wird, so meine ich, in vielen der Gespräche auch davon einiges zu lesen sein – in der Dialogsituation der Interviews ergaben sich zahlreiche spannende Aspekte, die diesem Buch seine Berechtigung geben. Eine ausführliche Erörterung dieser und anderer Themen wird einem allfälligen weiteren Buch über die Ukraine vorbehalten bleiben, sollte ich weiter dieses Land betreuen können und Interesse bei Verlag und Publikum vorhanden sein. So hoffe ich natürlich, dass das Buch Anklang bei den Leserinnen und Lesern finden sowie das Verständnis für die Ukraine vertiefen und das Interesse an ihr verstärken wird.

      Der Sieg hat bekanntlich viele Väter, die Niederlage ist ein Waisenkind. Für mögliche inhaltliche Fehler bin ich verantwortlich, für die hoffentlich wenigen Druckfehler der Verlag. Ohne Hilfe, Unterstützung und Verständnis wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Mein Dank dafür gilt in erster Linie meiner Familie, der ich dieses Werk gewidmet habe. Meine Töchter Immanuela und Michaela sowie meine Frau Elisabeth haben nicht nur im Jahr 2014 wieder einmal ihren Vater und Ehemann kaum persönlich gesehen; sie haben mich auch in den Jahren 1992 bis 1998 insgesamt monatelang entbehren müssen, als ich mich mit der Ukraine ebenfalls intensiv befasste – ein Interesse, das in diesen Jahren bei der überwiegenden Mehrheit der Journalisten kaum auf Verständnis stieß. Verständnis dafür hatte jedenfalls das Bundesheer, das mir in seiner damaligen Form wirklich viele Möglichkeiten bot, mein Interesse an der Ukraine zu befriedigen. Von allen Organisationen, bei denen ich mich je engagiert habe, hat mich das Bundesheer am meisten für den Einsatz entlohnt. Mein erworbenes Wissen über Einsatzplanung und über Waffensysteme, mit denen in der Ostukraine gekämpft wird, hat mir bis heute sehr genützt. Als Major der Miliz erfüllt es mich mit tiefer Sorge, wenn ich die Agonie des Heeres mit ansehen muss, das grundlegende Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Noch viel betrüblicher ist es, dass die politische Elite Österreichs offensichtlich kein Verständnis für grundlegende sicherheitspolitische Fragen aufbringt oder aufbringen will und dass der Masse der Bevölkerung das Schicksal des Heeres offensichtlich nicht wichtig genug ist, um Wahlausgänge zu beeinflussen. Doch wer für die (Rest-)Neutralität Österreichs ist, muss akzeptieren, dass Neutralität etwas kostet. Mir schein es zweifelhaft, ob in Österreich die Bevölkerung massenhaft für das Heer spenden würde, wie das in der Ukraine der Fall ist, wo es von Medikamenten über Lebensmittel bis hin zu Splitterschutzwesten an allem fehlt, was Soldaten für den Einsatz brauchen. In den Einsatz geschickt hat

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