Brennpunkt Ukraine. Christian Wehrschütz

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Brennpunkt Ukraine - Christian Wehrschütz

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Man hat genau das Gleiche wie in Russland gemacht. Man hat zwar in den Stahlgebieten und Industrien weiter produziert, aber man hat nicht ausreichend modernisiert. Es gab keinen Zufluss von dringend erforderlichem Kapital. Und gleichzeitig hat die Ukraine, was wir ganz oft vergessen, auch Rohstoffe, die weltweit sehr interessant sind. Titan zum Beispiel. Man hätte eigentlich eine sehr viel stärkere Verhandlungsposition haben können, wenn man sich die wirtschaftliche, mögliche wirtschaftliche Stärke der Ukraine perspektivisch angesehen hätte. Aber man wollte damals aus politischen Gründen unbedingt sofort das WTO-Abkommen unterzeichnen. Das hat man gemacht, und man hat dadurch, wie gesagt, im Agrarsektor viele Zugeständnisse gemacht. Man ist bis heute Lieferant wenig qualitativer Rohstoffe, veredelt aber kaum eigene Produkte. Und im Fall der Ukraine hätte dieser Agrarsektor nach wie vor sehr viel Potenzial zur Entwicklung einer eigenen Industrie.

       Sie leiten eine NGO 4 , eine Nichtregierungsorganisation, die sozusagen das Verhältnis Ukraine – EU, die EU-Annäherung der Ukraine, fördern soll. Wann wurde diese NGO gegründet? Wer stand dahinter und mit welchem Ziel?

      Gegründet wurde das Ganze 2011, und zwar mit folgendem Hintergrund: Wir waren damals schon fast zehn Jahre am Verhandeln des Assoziierungsabkommens, aber es hatte sich totgelaufen. Und die Europäische Union war im Herbst 2010 eigentlich an dem Punkt, zu sagen, es habe keinen Sinn, weiter zu verhandeln. Timoschenko und Juschtschenko waren überhaupt nicht in der Lage, wirkliche Verhandlungen über die wirtschaftlichen Folgen eines solchen Assoziierungsabkommens zu führen, wollten es auch nicht, das waren ja alles Diskussionen über Quoten und Ähnliches, die den eigenen Wohlstand bedroht hätten. Es waren mehr als 11 000 Positionen, die verhandelt wurden. Man kam nicht weiter. 2010, nach dem Machtwechsel, also hin zu Janukowitsch5, hat dann die Europäische Union gesagt: Entweder ihr macht das jetzt richtig oder wir lassen es sein. Daraufhin wurde dann der Beschluss gefasst: Nein, wir, also die Ukraine, wollen die Assoziierung haben und wir werden das intensiv betreiben. Zum damaligen Zeitpunkt, nach der Orangenen Revolution, eigentlich auch nach der ganzen Instabilität zwischen Timoschenko und Juschtschenko, wurde Janukowitsch als jemand gesehen, der die Stabilität ins Land zurückbringen könnte. Das hatten sich die Bürger erhofft und selbst der Westen stand Janukowitsch zwar skeptisch, aber doch relativ offen gegenüber. Und in dieser Zeit wurde dann gesagt: Okay, wir machen dieses Assoziierungsabkommen weiter, und man hat den damals Ersten Stellvertretenden Premierminister Andrij Kljujew6 beauftragt, die Verhandlung zu führen und sich der Europäischen Union anzunähern. Gleichzeitig haben damals die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament gesagt: Wir müssen eine engere Zusammenarbeit mit der Partei von Janukowitsch suchen. Wir können die Partei mit mehr als einer Million Mitgliedern nicht im luftleeren Raum, ohne Partner in Europa, schweben lassen. Timoschenko und Juschtschenko waren Mitglieder der Europäischen Volkspartei, der ja, wie wir wissen, auch die ÖVP und die CDU, vor allem die CDU ist die treibende Kraft dahinter, angehören. Aber man hat gesagt, Janukowitschs Partei müsse Hilfe bei der Europäischen Orientierung bekommen. Sie müsse sich zu einer normalen europäischen Partei entwickeln können. Und wir wollen ihr dabei helfen. Damals wurde auf europäischer Ebene eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet. Es ging nicht um die Mitgliedschaft der Partei der Regionen in der europäischen Sozialdemokratie, sondern es ging darum, ihnen wirklich bei einer Vernetzung zu helfen, damit auch die Politiker der Partei von Janukowitsch, die Ost-Ukraine mit starken Bindungen nach Russland, Zugang zu Europa finden würden. Und im Umfeld dessen wurde damals gesagt: Wir müssen jetzt die Kommunikation zwischen den europäischen Strukturen und der Ukraine fördern. Denn man hat keine gemeinsame Sprache gefunden. Man hat eben auf verschiedenen Ebenen gearbeitet, während die Europäische Union innerhalb der Hierarchie Entscheidungen von unten nach oben trifft, ist es in der Ukraine umgekehrt. Die Entscheidungen in der Ukraine werden nach wie vor von oben nach unten getroffen. Man hat keine Möglichkeit gefunden, wirklich miteinander zu kommunizieren, um die technischen, alltäglichen Probleme zu klären. Und deshalb haben wir damals eine Organisation gegründet, zusammen mit Ukrainern und Europäern, die gerade in diesem Fall helfen sollte.

       Wann begannen ungefähr die Verhandlungen zwischen der Ukraine und der EU über dieses Assoziierungsabkommen? Was waren die Knackpunkte? Und hatte die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, 2009 Einfluss auf diese Verhandlungen?

      Es begann, wie gesagt, 2004, gleich nachdem die Partnerschaftsabkommen in Kraft getreten waren. Wobei wir übrigens sagen müssen, auch da hat die EU, obwohl das Abkommen schon sehr lange fertig war, gewartet, bis es einen Machtwechsel in Kiew gab, um es in Kraft treten zu lassen. Also man hat auf Timoschenko und Juschtschenko gewartet, denn man wollte Kutschma7 damals nicht unterstützen. Und dann begannen die Verhandlungen, aber die haben sich sehr schnell totgelaufen. Und es gab eine neue Intensivierung 2010. Tatsächlich ging es schon um ganz klare Punkte, also um den Teil des Freihandelsabkommens, das machte den Großteil des ganzen Abkommens aus. Wenn die Ukraine das irgendwann mal umgesetzt und komplett implementiert haben wird, wird sie 80 % oder mehr der Bedingungen des europäischen Binnenmarkts erfüllt haben. Aber da ging es wirklich um jede Quote, um jede kleinste: welche Autos produziert werden, wie viel Mais, wie viel Weizen exportiert, importiert werden darf. Welchen Schutz es gibt und Ähnliches. Also das wurde damals alles gemacht. Vor allem Kljujew hat ja das Ganze betrieben, der dieses Abkommen unbedingt haben wollte. Denn man war sich sicher, dass eine Modernisierung der Wirtschaft der Ukraine nur mit Hilfe der europäischen Industrie, des europäischen Marktes erfolgen kann. Deshalb hat man dieses Abkommen damals vorangetrieben.

      Wir dürfen nicht vergessen, dass die Partei von Janukowitsch sich sehr stark aus oligarchischen Strukturen zusammengesetzt hat. Ihre Führungspersönlichkeiten bezeichnen wir als oligarchisch – und diese haben natürlich wirtschaftliche Interessen. Die haben sehr klar gesehen, dass es eine Notwendigkeit für die Modernisierung gibt. In der Partei von Janukowitsch gab es eine Auseinandersetzung zwischen den Wirtschaftskräften, die sich eher nach Europa orientieren, und denen, die sich eher nach Russland orientieren. Aber bis zum Schluss hatte sich eigentlich eher die Gruppe durchgesetzt, die diese europäische Organisation wollte. Deshalb hat man das Abkommen in der politischen Klasse und der Bevölkerung propagiert und, wie auch vorher bei der WTO, sehr große Zugeständnisse im Bereich der Quoten gemacht, vor allem im Bereich der Landwirtschaft. Wenn man sich die Quoten für solche elementaren Exportprodukte wie Sonnenblumenöl oder Mais ansieht, für die die Ukraine minimale Quoten ihrer jährlichen Produktion für den Export in die EU bekommen hat, dann wird deutlich, dass es eigentlich den politischen Willen eines Teils der politischen Elite um Janukowitsch gab, die Ukraine unter Aufgabe vieler eigener Interessen an die wirtschaftlichen Strukturen der EU heranzuführen.

       War dieses Interesse, abgesehen von der Modernisierung, auch dadurch gegeben, dass sich viele Großunternehmer der Ukraine – oder die Oligarchen, wie man sie dort bezeichnet – durch die EU-Annäherung auch Schutz vor den russischen Oligarchen erwartet haben?

      Das würde ich nicht so sehen. Denn viele russische Oligarchen sind auf dem ukrainischen Markt aktiv, weil auch sie diesen Freiraum sehr genießen, den sie eigentlich in Russland nicht haben. Es gibt in der ukrainischen Wirtschaft eine sehr starke Pluralität, die unter Janukowitsch zwischen den verschiedenen Oligarchen sehr austariert war, während wir in Russland eigentlich davon sprechen, dass es nur Unternehmensführer unter der Führung von Putin gibt. Es gibt eigentlich keine eigenständigen russischen Oligarchen. Die Wirtschaft wird in Russland sehr zentralistisch geführt. Das ist in der Ukraine anders. Und das heißt, man hat sich was anderes erhofft.

      Diejenigen, die die Annäherung an Europa vorangetrieben haben, wollten eigentlich erreichen, dass man Schutz für die Investoren hat, sich das Investitionsklima verbessert. Denn bei jedem Machtwechsel in der Ukraine – das haben wir jetzt auch wieder gesehen und das ist eines der ganz großen Probleme – übernimmt die Gruppe, die die Macht übernommen hat, eigentlich das ganze wirtschaftliche Vermögen der vorigen Macht. Man wollte also Stabilität erreichen, damit zukünftig Investitionen in der Ukraine auch dauerhaft sicher sind. Bei jedem Machtwechsel zuvor hat es diesen Wechsel gegeben, man hat wieder renationalisiert und anschließend privatisiert. Kein inländischer und kein ausländischer Investor kann unter solchen Umständen dauerhaft wirtschaften.

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