Amateure. Katherine V. Forrest
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Читать онлайн книгу Amateure - Katherine V. Forrest страница 5
Everson zögerte und fingerte an seinem bleistiftdünnen Schnurrbart herum. »Das ist eine merkwürdige Sache, Kate. Es ist eine Hundertachtzig-Grad-Wunde.« Er wies mit einer schnellen Bewegung seiner wohlmanikürten Hand auf die Leiche, und Kate ging hin, um sich das näher anzusehen. »In so gut wie allen Fällen verläuft ein Messerstich schräg nach unten, aber dieses Messer ist fast gerade eingedrungen. Das Opfer könnte gestanden haben, durch die Wucht des Stoßes zurückgeworfen worden und in den Sessel zurückgefallen sein. Oder er wollte gerade aufstehen. Die Waffe ist ein Prachtexemplar, nicht?« Kate hatte sich heruntergebeugt, um den gebogenen, fein geschnitzten Elfenbeingriff genauer anzusehen. »Zu viele Facetten, um Fingerabdrücke aufzunehmen.«
»Der Innendienstleiter hat die Leiche identifiziert«, sagte Taylor. »Er sagt, das sei der Brieföffner des Opfers. Breite Klinge, scharf wie ein Rasiermesser, sagt er.«
Kate trat einen Schritt zurück, und die beiden Schwarzen hievten die Leiche auf die Tragbahre. »Mit so einer Waffe hätte es auch ein Zweijähriger geschafft«, fuhr Everson fort. »Die Klinge hat dieses Walfett wie Butter durchschnitten.«
»Fettes Schwein«, ächzte einer der Sanitäter, als sie den Koloss auf der Tragbahre festschnallten und zudeckten.
Noch einmal betrachtete Kate den Schreibtisch, das zerschmetterte Glas. »Walt, könnte er sich die Wunde selbst beigebracht haben?«
»Kate«, sagte Taylor, »eine Zeugin hat jemanden gehört –«
»Walt?«, unterbrach Kate, ohne Taylor zu beachten.
Wieder zögerte Everson. »Das könnte das gerade Eindringen der Waffe erklären, und es gibt auch keine Schnittwunden, die darauf hinweisen, dass das Opfer sich gewehrt hätte. Aber es gibt keine Anzeichen für ein probeweises Zustechen, keinen sichtbaren Hinweis auf weitere Stichwunden auf der Haut. Das Hemd ist völlig heil, es gibt nirgends Schnitte, die auf einen zögernden vorherigen Versuch hindeuten. Und du weißt, wie sehr sie zögern, Kate, wie oft sie ihre Sachen ausziehen oder sie zumindest zur Seite schieben. Kein Anzeichen von Todeskrampf – keine feste Umklammerung der Waffe und keine unmittelbar eintretende Leichenstarre, was bei Selbstmord ja manchmal vorkommt.« Everson sah auf seine elegante Armbanduhr. »Es ist drei Stunden her, und es gibt immer noch keinerlei Anzeichen davon.«
»Aber möglich ist es trotzdem?«
»Ja. Wir werden uns beide sehr viel intensiver mit der Sache beschäftigen müssen.«
»Sicher.« Sie wandte sich Taylor zu. »Ed, wie viele Leute arbeiten in diesem Büro?«
Er konsultierte seine Notizen. »Einundvierzig.«
»Eine ganze Menge Befragungen, Walt.«
»Und wenn es Mord oder Totschlag ist«, sagte Taylor, »haben wir einen Haufen Leute am Hals, die wir nicht isolieren können, und es wird nicht lange dauern, bis sie unsere Anweisungen ignorieren und alles durchdiskutieren.«
»Du meinst, ihr wollt, dass die Autopsie sofort gemacht wird.« Everson schürzte die Lippen, streichelte wieder seinen Schnurrbart und warf einen flüchtigen Blick auf die Tragbahre. »Es sieht recht sauber und ordentlich aus. Und heute ist Dienstag, und dienstags ist nie viel los. Ich ruf sofort an, wenn wir fertig sind.«
Die Männer folgten den Sanitätern und der Tragbahre, verließen lachend und redend den Raum. Taylor blätterte in seinen Notizen, Kate setzte sich auf den Rand des niedrigen Bücherschranks aus Teakholz und zog ihr Notizbuch heraus. Ohne aufzublicken fragte sie: »Hast du schon davon gehört?«
»Ja, hab ich. Ich dachte mir schon, dass es eine inoffizielle Absprache geben würde, dass der Täter sich schuldig bekennen und dafür eine milde Strafe zugesichert bekommen würde, aber eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung – verdammt, Kate –«
Sie hörte nicht mehr hin, nahm den Raum noch einmal in allen Einzelheiten in sich auf, während Taylor seine Hetzrede gegen den Irrsinn des Rechtssystems hielt. Sie war am Morgen vor Gericht gewesen, um in einem Fall auszusagen. Der Fall war auf Mai vertagt worden. Das Opfer war erst siebzehn gewesen, der Mörder zweiundzwanzig. Er hatte ein ellenlanges Strafregister, hatte schon Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt, als Kate noch für Jugendkriminalität zuständig gewesen war. Er war typisch für die heutigen Kriminellen – und das beunruhigte sie mehr als die inoffizielle Absprache und die milde Strafe. Jünger, sie schienen immer jünger zu werden, waren lange drogenabhängig gewesen und waren es noch, und ihre Verbrechen ließen sie völlig kalt. Ohne Skrupel und ohne lange Überlegung begingen sie die brutalsten Grausamkeiten. Zwar stimmte es, dass die weibliche Kriminalität ebenfalls zunahm, aber sie hatte Hochrechnungen gelesen, nach denen sehr bald drei von vier amerikanischen Männern wenigstens einmal in ihrem Leben ein Gewaltverbrechen begangen haben würden … Die dünne blaue Linie von Männern und Frauen, die ihr Bestes taten, die Gesellschaft zu schützen und ihr zu dienen – wie sollten sie es schaffen, eine derartige Grausamkeit noch viel länger im Zaum zu halten? Nun, sie machte ihre Arbeit, und das war alles, was sie tun konnte. »Ed«, sagte sie schließlich schroff, »das ist erledigt.«
Er seufzte und sah auf seine Notizen. »Das hier war kein Selbstmord, Kate. Das hab ich im Gefühl. Und die Leiche sah ausgesprochen erstaunt aus.«
»Das stimmt«, gab sie zu. »Was haben wir bis jetzt?«
»Code drei, alle Einheiten um sieben Uhr zweiundvierzig alarmiert.« Taylor las sachlich-nüchtern aus dem Polizeibericht und seinen Notizen vor. »Code eins-acht-sieben, ein Verdächtiger im Gebäude. Das Gebäude wurde gegen acht Uhr abgeriegelt. Wir haben eine Liste aller Personen, die sich nach der Abriegelung in den oberen Stockwerken des Gebäudes aufhielten –«
»Wird uns viel bringen«, warf Kate bissig ein.
Taylor sah kurz auf und fuhr dann fort: »Ellen Rose O’Neil betrat das Büro gegen sieben Uhr zwanzig, hörte ein Geräusch, fand das Opfer etwa um sieben Uhr vierzig. Hat den Täter nicht gesehen …«
Taylors Notizen waren immer sehr sachlich und ausführlich, und Kate hörte konzentriert zu. Die Untersuchung des Tatorts war so gut wie abgeschlossen: Fotografien waren gemacht, Skizzen, Messungen, Beschreibungen waren angefertigt und Fingerabdrücke genommen worden. Den Beschäftigten war erklärt worden, dass es notwendig sei, von allen Fingerabdrücke zu nehmen, und alle hatten ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt. Kate machte sich kurze Notizen.
»Haare ordentlich, Körper leicht verdreht, aber Haltung des Rumpfes normal«, leierte Taylor herunter. »Augen geöffnet. Diamantring, Armbanduhr von Cartier, dreihundert Dollar in der Schreibtischschublade. Keine Unordnung außer Blutspuren auf dem Schreibtisch, wo die Hände des Opfers abgerutscht sind. Blutspuren an der Bar, von der linken Hand des Opfers, wie es aussieht.«
Kate ging um den Schreibtisch herum und schätzte die Entfernung und die Winkel zwischen dem Schreibtisch, dem Sessel und der umgestürzten Bar.
Taylor zog eine Skizze zu Rate, die auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch ausgebreitet war. »Nach den Rollspuren zu urteilen, steht die fahrbare Bar normalerweise zwei Meter fünfundneunzig vom Schreibtisch entfernt; sie wurde auf einundsiebzig Zentimeter an ihn herangeschoben.«
Kate kniete sich neben der umgestürzten Bar hin, die mit Fingerabdruckpuder bedeckt war, klopfte mit ihrem Kugelschreiber ein wenig von dem Puder von den Griffen herunter und betrachtete die glänzenden, angetrockneten rotbraunen Blutspuren.
»An den Griffen sind Blutspuren«, sagte Taylor unnötigerweise.