Auf Wölfe schießt man nicht. Heinz-Dietmar Lütje
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Dann bestiegen sie ihre Fahrzeuge. Jockel seinen in die Jahre gekommenen Ford-Kombi und Gerd seinen ebenfalls angejahrten Pajero, der ihm seit fast 18 Jahren treue Dienste leistete und von dem er sich nicht trennen mochte, auch wenn er diesen Wagen eigentlich nur zur Jagd nutzte, oder im Winter, wenn hoch Schnee lag oder Gartenabfälle zu entsorgen waren. Dieses Auto hatte ihn noch nie im Stich gelassen, egal, ob hohe Minusgrade, das Auto sprang immer an und war auch sonst die Zuverlässigkeit an sich.
Jockels Ford hingegen hustete schon erst einmal asthmatisch, ehe er endlich ansprang und mit einigen Fehlzündungen in Gang kam.
Michaelis kam gut vierzig Minuten später nach Hause, packte Waffen und Munition in den Safe, stieg die Treppe vom Keller in sein großes Haus hinauf und begrüßte den Jagdhund, einen Deutsch-Drahthaarrüden, der infolge einer Laufverletzung zu seinem großen Bedauern nicht mitgenommen wurde und sein Missfallen hierüber auch deutlich zum Ausdruck gebracht hatte. Seine Frau schlief schon tief und fest, wie er mit einem Blick in das Schlafgemach bemerkte. Er zog seine Jagdklamotten aus, kleidete sich bequem in Freizeithose und leichten Pullover, machte sich einen ordentlichen Abendimbiss und verholte sich vor den Fernseher. Das machte er so seit Jahren, egal, ob er morgens früh raus musste oder nicht, das gehörte für ihn einfach zum Abschluss des Tages dazu. Dafür schlief er gerne morgens aus.
Gegen zwei Uhr, mitten in der Nacht, er war gerade eingeschlafen, klingelte sein Handy. Ganz gegen seine Gewohnheit hatte er es nicht vor dem Schlafengehen ausgeschaltet. Knurrend griff er nach dem klingelnden Ruhestörer, während seine Frau aufwachte und fragte, was los sei?
»Hä, ist der Kerl verrückt«, entfuhr es ihm und erklärend für seine sogenannte bessere Hälfte fügte er hinzu, »das ist Jockel«, wie ihm der Blick auf das Display verraten hatte.
»Spinnst du, mich mitten in der Nacht anzurufen? Ich bin gerade eingeschlafen, du Nervensäge!«
»Mein Handy hat geklingelt«, erklärte Jockel, »und du …«
»Ach und deshalb meinst du Arsch, dann kann ich auch geweckt werden? Da hört sich ja wohl alles auf!« Gerd Michaelis war rechtschaffend empört und schob die Hand seiner Frau, die ihn beschwichtigen wollte, beiseite.
»Entschuldige, aber das willst du wissen, sonst hätte ich dich bestimmt nicht gestört«, den Grunzlaut seines Gesprächspartners vernehmend fuhr er schnell fort, »ich weiß jetzt, was das Wild vertrieben hat!« »Das dauert länger, schlaf weiter!«, gab der genervte Angerufene seiner Frau Hiltrud Bescheid, wohl wissend, dass ihre Neugier sie keine Ruhe finden lassen würde, bis sie wusste, was der Grund des nächtlichen Anrufes war. »Bleib dran, Jockel, ich gehe ins Wohnzimmer«, knurrte er in sein Telefon und schlurfte aus dem Schlafgemach.
»Ich schick dir ein Bild aufs Handy, du wirst staunen!«, verkündete Jockel.
Dr. Gerd Michaelis wusste im ersten Moment nicht, ob er staunen oder sich schlicht ärgern sollte? Das, was auf seinem Handy zu sehen war, sah aus wie ein Schäferhund-Mischling. Und neben seinem Drahthaar-Rüden war auch er Besitzer eines Deutschen Schäferhundes. Eines Prachtexemplars von Rüden, wie ihm alle gern bestätigten. Berry hieß der stolze Hund. Etwas zu groß geraten, aber umso stattlicher im Aussehen. Schwarze Maske, knuffig und nicht etwa spitz und mickrig, wie bei so vielen überzüchteten Hunden dieser Rasse, die Schnauze mit dem kräftigen Gebiss und den aufmerksamen braunen Augen, denen nichts entging. Dazu ein erstklassiges Gehör und eine Nasenleistung, die in der Vergangenheit schon den einen oder anderen Nachsuchenspezialisten auf die hinteren Plätze verwies. Michaelis hätte auch sein Schäferhund gereicht, wenn dieser als Jagdhund die Prüfung hätte machen dürfen. Da dieses seinerzeit nicht der Fall war, wurde zusätzlich zu dem imponierenden Schäferhund ein Drahthaar angeschafft. Berry war der vierte Schäferhundrüde und Roy das dritte Drahthaar, aber der erste Rüde. Seine jagdlichen Vorgänger waren Hündinnen gewesen, was somit deutlich weniger Probleme aufgeworfen hatte. Beide Hunde vertrugen sich nach kurzem Kräftemessen, dass Roy, so hieß der Drahthaar, als zweiter Sieger beendete, ausgesprochen gut. Keine Selbstverständlichkeit bei zwei stattlichen Rüden, wie jeder Hundekenner weiß.
»Scheiße, ein wildernder Hund, das hat uns gerade noch gefehlt«, lautete der nicht ganz feine aber verständliche erste Kommentar des Ex-Anwaltes.« Dann stutzte er, schaute nochmals genau hin und wurde kurz abgelenkt, als sich die Stubentür öffnete und Hilde, die Angst hatte, etwas zu verpassen, das Zimmer betrat. Interessiert schaute sie ihren Mann, mit dem sie fast vierzig Jahre verehelicht war, an. Bevor sie fragen konnte, winkte er ab und unterbrach auch etwas grob den gerade zu einer Erklärung ansetzenden Jockel. »Sag nichts. Ich glaube, ich weiß, was du sagen willst. Kein Wort, zu niemand. Wir treffen uns um neun Uhr bei dir. Ansitz fällt flach. Bis nachher und kein Wort zu irgendwem, auch nicht zu deiner Zimmerlinde!« Mit diesen Worten beendete er das Gespräch.
»Ja, nun sag schon, was ist denn so wichtig, dass Jockel mitten in der Nacht anruft?« Etwas unwirsch starrte Gerd seine Frau an. Er überlegte kurz, kam aber zu dem Schluss, dass sie ohnehin keine Ruhe geben würde. »Ein wildernder Hund im Revier. Darum ist das Wild entweder verschwunden, hat sich also anderswo eingestellt oder aber ist sehr heimlich geworden. Ich bespreche das morgen mit Jockel.
»Aber ihr werdet doch den Hund nicht totschießen?« »Nein, du kennst mich doch«, beruhigte der Jäger seine besorgte Frau, »da müsste schon viel passieren, bevor ich auf einen Hund schießen würde.«
Nur komisch, dass wir von den umliegenden Revieren nichts gehört haben, überlegte der Beständer. Aber da dieses Eigenjagdrevier inmitten eines sehr großen, fast zweitausend Hektar umfassenden gemeinschaftlichen Jagdbezirkes und einer auch nicht gerade kleinen anderen Eigenjagd von fast 900 Hektar lag, zu deren Eigentümer und den Pächtern der Genossenschaft eine gewachsene Feindschaft seines Verpächters bestand, war das auch nicht ganz unverständlich. Leider hatten die Genossen der Gemeinschaftsjagd, wie auch der Großbauer und Eigenjagdbesitzer, ihre Aversionen gegenüber seinem Verpächter, die auch bereits durch die Feindschaft mit dessen Großonkel, den dieser beerbt hatte, herrührten, auch auf ihn übertragen. Alle Versuche seinerseits, diesen Zustand zu beenden, waren erfolglos geblieben und schließlich hatte auch er dann auf stur geschaltet. Nicht schön, für keine Seite, aber wohl verständlich und leider alles andere als selten, gerade in Jägerkreisen.
Michaelis ging wieder zu Bett. Während kurz darauf seine Frau wieder fest eingeschlafen war, wie ihre rasselnden Schnarchtöne verkündeten, wurde er immer wacher und – wen wundert es – auch immer wütender. Ausgerechnet jetzt, wo er Job und auch Ehrenämter aufgegeben hatte und sich schon seit Jahresbeginn auf den Aufgang der Bockjagd gefreut hatte, musste dieses Unglück über ihn hereinbrechen. Denn da hatte Jockel wohl recht, auch wenn er ihn gerade noch daran gehindert hatte, dieses auszusprechen, aber der wildernde Hund war wohl ein Wolf. Schließlich waren nicht weit entfernt erst in jüngster Vergangenheit Wölfe aufgetaucht, eindeutig identifiziert und auch bereits einer überfahren worden. Nun hatte er nichts gegen Wölfe. Ganz bestimmt nicht. Aber in diese dicht besiedelte Kulturlandschaft passten sie ganz einfach nicht – und in sein gepflegtes Revier, wo Fuchs und sonstiges Raubwild mit allen erlaubten Mitteln scharf bejagt wurde, schon gar nicht.
Diese ganze »Wolfshype«, die überall ausgebrochen war, konnte er ohnehin nicht nachvollziehen.
»Da siehst du das noch etwas deutlicher. Ich habe das Bild nochmal auf Fotopapier ausgedruckt.« Mit diesen Worten hielt Jockel seinem Jagdherrn das von der Kamera auf sein Handy gesandte, jetzt ausgedruckte, Foto hin. Michaelis guckte lange auf das in erstaunlich guter Qualität gefertigte Foto. »Stimmt, Jockel, das dürfte eindeutig ein Wolf sein. Nur erstaunlich, dass bisher keine Risse bekannt geworden sind.« Michaelis