Mami, ich habe eine Anguckallergie. Inez Maus
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Читать онлайн книгу Mami, ich habe eine Anguckallergie - Inez Maus страница 13
Pflanzen, egal ob draußen oder drinnen, weckten in dieser Zeit immer die Aufmerksamkeit unseres Sohnes. Mindestens einmal am Tag goss er mit seiner Spielzeuggießkanne fiktiv unseren Grünbestand, wobei er nie eine Pflanze übersah, das Spiel nicht langweilig wurde und er jede Neuerwerbung sofort bemerkte, selbst wenn es sich dabei nur um einen winzig kleinen Kaktus handelte. In den Gebrauch der Spielzeuggießkanne hatte ich Benjamin eingewiesen und ich glaube, dass er zu dieser Zeit nie beobachtet hatte, dass lebende Pflanzen mit Wasser gegossen werden, weil das Gießen meiner Gewächse durch unseren anstrengenden Alltag tagsüber nicht möglich war. Nachdem ich eine Mimose gekauft hatte, um Conrad die ungewöhnliche Reaktion dieser bezaubernden Pflanze auf Berührungen zu demonstrieren, versuchte Benjamin die Reaktion der Pflanze zu reproduzieren, indem er beharrlich an das Zwischenfenster klopfte, hinter dem die filigrane Mimose gedieh. Wieder einmal hatte ich geglaubt, dass mein Sohn unsere Aktivitäten überhaupt nicht mitbekam, da er sich weder zu uns gesellte noch uns aus der Ferne zuzusehen schien. Nachdem auch Benjamin die Mimose, wie Conrad sagte, „erschrecken“ durfte, versuchte er trotzdem weiterhin, die Mimose durch Klopfen an die Scheibe zu einer Reaktion zu bringen.
Diese Pflanzenliebe machte ich mir zunutze und so verbrachten wir viele Tage im Botanischen Garten. Als ich das erste Mal mit Benjamin in die prachtvollen Gewächshäuser gehen wollte, musste ich feststellen, dass Kinderwagen und auch Buggys dort drinnen nicht erlaubt waren. Also nahm ich Benjamin auf den Arm. Zu meinem allergrößten Erstaunen signalisierte mein sonst so laufscheuer Sohn, dass er meinen Arm verlassen wollte. Er marschierte fleißig durch die Gewächshäuser, ließ verschiedenste Blättchen über seine zarten Händchen streifen und bestaunte große Blüten in mannigfaltigen Farben. Ein kleiner See mit Trittplatten machte ihm Angst, hier ließ er sich vorsichtshalber darüber tragen. Im Sukkulenten-Gewächshaus angekommen, strebte Benjamin auf einen gewaltigen Kaktus zu, der mindestens doppelt so groß war wie er selbst. Für seine Größe riesige Dornen ragten in alle Richtungen. Schon wollte ich meinen Sohn ergreifen und in Sicherheit bringen. Da fiel mir auf, wie vorsichtig, ja fast ehrfurchtsvoll, er sich dem wehrhaften Wüstenbewohner näherte. Ich hielt mich zurück und wartete gespannt ab. Inzwischen stand Benjamin vor dem Kaktus und berührte mit dem rechten Zeigefinger vorsichtig die Spitze eines Dornes in Augenhöhe. Er gab ein „Au!“ von sich, pustete seinen Finger und wiederholte die Prozedur einige Male. Dann benutzte er den linken Zeigefinger als Prüfwerkzeug. Nach mehreren Versuchen ging er zum nächsten Dorn über: Anfassen, „Au!“, Pusten, Anfassen, „Au!“, Pusten … Ich liebte die Besuche im Botanischen Garten unter anderem deshalb, weil er an Wochentagen nur wenig frequentiert wurde. Aber jetzt betrat eine ganze Gruppe älterer Damen das Gewächshaus. Aus meiner Erfahrung wusste ich, dass gerade Frauen im fortgeschrittenen Alter häufig Kontakt zu kleineren Kindern suchen und Benjamin schien als süßer, kleiner Junge mit weichen, blonden Löckchen dafür äußerst geeignet. Instinktiv suchte ich mit den Augen die nächste Tür, denn ich glaubte zu wissen, was jetzt passieren würde. Aber nichts geschah! Obwohl die Damen inzwischen hinter Benjamin standen und sich an seinen Experimenten ergötzten, schien Benjamin völlig in seine Tätigkeit versunken zu sein. Zwei Dinge lernte ich an diesem Tag: In der richtigen Umgebung hatte auch mein Sohn Spaß daran, draußen, oder zumindest außerhalb der Wohnung, herumzulaufen. Und zweitens war Benjamin sogar in der Lage, fremde Menschen in unmittelbarer Nähe zu ertragen, wenn ihm seine momentane Beschäftigung äußerst wichtig war.
Die siebente Vorsorgeuntersuchung brachte zum ersten Mal zu Tage, dass in der Entwicklung unseres Sohnes etwas nicht stimmte. Sobald die Schwester bei der Gewichtskontrolle mit ihm in Kontakt getreten war, begann Benjamin zu weinen und war dann nicht mehr zu beruhigen. Im Behandlungszimmer der Ärztin flüchtete er vom Behandlungstisch, indem er das seitliche Treppchen sicher herunterstieg und beim Rutscherauto in der äußersten Ecke des Zimmers Zuflucht suchte. Die Ärztin forderte mich ein wenig gereizt auf, ich solle mein Kind zurückholen und dafür sorgen, dass es während des Tests auf dem Tisch verweile. Sie erwähnte weiterhin, dass sie von seinen motorischen Fähigkeiten bereits überzeugt sei. Es gelang mir nicht, meinen Sohn auf den Tisch zu setzen. Er sprang sofort wieder auf, krallte sich ängstlich an mir fest und verweigerte jegliche Zusammenarbeit. Nach einem kurzen Gespräch mit mir schrieb die Ärztin in sein Untersuchungsheft: „Denver Test: ignoriert Aufforderung; nur nach Befragen der Mutter altersentspr. Entw.“ Ich kann meine Gefühle in diesem Moment nur schwer wiedergeben. Ich fühlte Tränen in mir aufsteigen, war wütend auf mich und verzweifelt. Was machte ich nur falsch bei Benjamin und wieso war Conrad ein so unkompliziertes Baby und Kleinkind gewesen? Da Benjamin keine organischen Schäden aufwies, musste es doch mein Versagen sein, welches seine Entwicklung in die falschen Bahnen lenkte. Ich fand damals jedenfalls keine plausible Erklärung für seine Verweigerung. Die Dinge, die die Ärztin im Test von ihm verlangte, erledigte er zu Hause mit Leichtigkeit, zumindest traf das für die grob- und feinmotorischen Aufgaben zu. Ich erwähnte im Gespräch mit der Ärztin zum wiederholten Male seine unveränderten Schlafstörungen und tat meine Sorge über die ungewöhnliche Sprachentwicklung unseres Sohnes kund. Die Schlafstörungen verharmloste die Ärztin damit, dass viele Zweijährige protestieren täten, wenn sie ins Bett gebracht würden. Wie sollte ich auch erklären, dass etwas so schlecht Messbares wie der Gesamtschlaf einer Nacht bei einem Kind, das häufig weinend aufwacht und dann ewig braucht, bis es wieder einschläft, uns nicht ausreichend erschien. Wann hat ein Kind eigentlich Schlafstörungen? Dafür gibt es doch keine Mess- und Richtwerte wie für Blut- und Urintests. Die verzögerte Sprachentwicklung erklärte mir die Ärztin damit, dass Jungen häufig später sprechen lernen würden als Mädchen und dass Zweitgeborene meistens langsamer die Sprache erwerben täten, weil sie öfter mit dem Erstgeborenen und dafür weniger mit den Eltern kommunizieren würden. Damals erschien mir das durchaus plausibel und in meinem tiefsten Innern war ich wohl froh, dass die Ärztin unsere Sorgen zerstreute und zum Abwarten riet. Der Denver-Test sollte nach spätestens zwei Monaten wiederholt werden, wozu es aber nicht kam, weil Benjamin auch zum späteren Zeitpunkt nicht kooperationsbereit war. Das gelbe Untersuchungsheft gaukelte uns damals vor, dass die Probleme unseres Sohnes nicht besorgniserregend waren. Heute bin ich der Meinung, dass in der Spalte „Erfragte Befunde“1 folgende Punkte hätten unbedingt angekreuzt werden müssen:
„altersgem. Sprache fehlt (z. B. keine Zweiwortsätze, kein Sprechen in der 3. Person