Marivan unter den Kastanienbäumen. H. Ezadi
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi страница 22
Für mich war es wie ein Schlag ins Gesicht, was unser Lehrer da von sich gab. Mein Herz krampfte sich zusammen, und obwohl ich doch heute Nacht der mutigste Mensch in Marivan gewesen war, sollte ich nun ein Feigling sein?! Ich saß auf meinem Stuhl wie ein Häufchen Elend und fühlte mich schuldig. Ich wollte und würde kein Feigling sein. Das waren meine Gedanken, bevor ich dem Lehrer weiter folgen konnte. Ich fand es gemein, gemein für meine Aktion in dieser Nacht. Aber es wusste ja niemand, dass ich es war, der die Flugblätter verteilt hatte. Also atmete ich tief durch und nach einigen Minuten fühlte sich mein hitziger Kopf wieder halbwegs normal an. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht zu explodieren, war ich doch so stolz auf mein Mitwirken an der Aktion.
Herr Kursch setzte sich wieder an sein Lehrerpult und begann mit seinem Tagesgeschäft. „Also, liebe Kinder, wenn keiner mehr Fragen hat, fangen wir heute ein neues Thema an. Es lautet: ‚Wie bereitet man ein Referat, eine Reportage vor?‘ Geht nacheinander an die Tafel und schreibt dort eure Gedanken auf.“
Als ich an der Reihe war, ging ich nach vorn, konnte mich jedoch nicht konzentrieren. Ich war bestimmt sehr blass, weil mich das schlechte Gewissen plagte. Aber dann war ich an der Tafel doch souverän. Meine Gedanken waren zwar bei der Reaktion unseres Lehrers auf die Flugblätter, aber ich ließ es mir nicht anmerken. In diesem Moment dachte ich: Herr Kursch, warum sind Sie nur so ungerecht? Ich war es doch, der heute Nacht Mut aufgebracht hat! Na ja, er konnte es nicht besser wissen. In meinem Kopf schrie es: „Feigling, Feigling, Feigling!“ Das würde ja bedeuten, dass alle in der Untergrundorganisation Feiglinge waren. Alle! Kak Kawe, Kak Shwane, Jewad und all die anderen, die im Gefängnis waren, sollten Feiglinge sein? Nein, dachte ich, als ich vor der Tafel stand. Herr Kursch, Sie haben unrecht! All diese mutigen Freunde waren in meinem Augen Helden, und der Held der letzten Nacht war ich in Marivan. Es blieb mein Geheimnis. Was nützte es, in der Öffentlichkeit auch noch seinen Mund aufzumachen? Dann kämen noch mehr Menschen durch die Savak in Gefängnis. Was sollte das bringen? Unser Lehrer machte sich das zu leicht. Vielleicht war er auch ein Feigling, sonst hätte er schon viel früher etwas tun können.
Ich schrieb an die Tafel: „Eine Reportage muss der Wahrheit entsprechen.“ Mehr Worte hatte ich im Moment nicht übrig. Ich setzte mich auf meinen Stuhl und war sehr, ja sehr erleichtert, als ich die Klingel hörte. Endlich konnte ich dieser Situation entfliehen!
Gleich nach der Schule lief ich zum Kaffeehaus. Unterwegs fand ich keine aufgeklebten Plakate mehr. Ach, das war auch egal! Ich war sowieso nicht mehr stolz und meine Begeisterung war verblasst. Es war für mich eine große Niederlage, ein Feigling zu sein. Im Kaffeehaus erwartete mich die nächste Enttäuschung. Niemand war da, dem ich meine Gedanken hätte mitteilen können. Jewad fehlte mir in diesem Moment. Nur die Alten saßen da und spielten ihre Brettspiele. Ein Tag voller Erwartungen entpuppte sich als ein Tag des Versagens.
Traurig und müde ging ich nach Hause. Ich wurde diesen Gedanke, ein Feigling zu sein, einfach nicht los. Ich fragte mich: Wieso ist man bei einer guten Tat von der Meinung anderer anhängig? Weshalb ist dieses Verlangen des Lobes da? Wie ist der Mensch und was erwartet er von seiner Umwelt? Zählt man nichts, wenn man alles für sich behalten muss? Dann wird es doch niemand bemerken! Ich beschloss, mich in Geduld zu üben und alles für mich zu behalten. Ich hatte keine andere Wahl. Schweigen, so glaubte ich, war eine hohe Kunst, die ein Mensch zu beherrschen in der Lage war.
Abends beobachtete ich meine Eltern. Mein Vater versuchte, den BBC-Sender einzustellen. Dieses Mal war der Sender klar und kein Parasitensender störte die Übertragung.
„Na, das klappt ja heute besser mit deiner Suche nach der richtigen Frequenz!“, bemerkte meine Mutter.
„Stimmt“, bestätigte mein Vater: „Die Welt hat sich verändert. Der Schah und die Savak können nicht mehr alles boykottieren.“
„Ach“, mischte sich meine Mutter ein, „du und dein Radio, ihr wisst weniger als ich. Ich brauche kein Radio, keine Zeitung, keine Batterie, keinen Strom.“
Mein Vater runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Nichts, nur dass Dade Fathe Weltnachrichten hat. Es gibt Neuigkeiten in der Stadt und der Umgebung. Nicht nur oberflächliche Nachrichten aus dem Radio, sondern reale Nachrichten über das, was in der Region und in unserem Land passiert.“
Mein Vater lachte. „Hast du wieder mit Dade Fathe gequatscht? Was hat sie denn heute wieder für einen Unsinn über den Zaun erzählt?“
Meine Mutter war verärgert darüber, dass ihr Mann mal wieder das Oberhaupt der Familie herauskehrte. Er musste immer recht haben. Ihre Antwort kam laut und ungehalten: „Erzähl du mir, was du gehört hast, dann erzähle ich dir, was ich gehört habe.“
Mein Vater umarmte unsere Mutter, um sie gnädig zu stimmen. „Ach, mein lieber Schatz, nun erzähl schon, was dir Dade Fathe erzählt hat!“
Gespannt saß ich auf dem Teppich, hob mein Buch vor mein Gesicht und tat so, als würde mich die Diskussion meiner Eltern überhaupt nicht interessieren. Bestimmt hatte das, was gleich kommen würde, etwas mit unseren Flugblättern zu tun. Was sollte es sonst für Neuigkeiten in unserer Stadt geben?
Meine Mutter sagte zu meinem Vater, bevor sie vertraulich ihre Hand auf die seine legte: „Ja gut, ich erzähle dir, was ich heute gehört habe: Dade Fathe hat gehört, dass Kak Foad, der junge Ingenieur, der Leiter des Stromwerkes in unserer Stadt war, im Gefängnis in einer lebensbedrohlichen Lage ist. Als Aktivist gegen das Regime ist er seit einigen Jahren im Gefängnis und befindet sich gerade im Hungerstreik. Er kämpft zusammen mit anderen politisch Gefangenen um bessere Haftbedingungen. Aber jetzt ist sein Leben durch den Hungerstreik bedroht.“
Mein Vater lachte. „Aha, und das sollen deine Neuigkeiten sein? Das weiß inzwischen die ganze Stadt! Ich habe doch bereits heute Morgen an der dunklen Wand bei Dade Fathe ein Plakat gelesen.“
„Aber mein lieber Schatz“, wandte meine Mutter ein, „du weißt doch, dass Dade Fathe nicht lesen kann. Sie ist Analphabetin.“
Mein Vater kommentierte den Einwurf mit einer wegwerfenden Handbewegung und sagte: „Bestimmt hat ihr jemand das Plakat vorgelesen. Und dann ist sie durch die Stadt gerannt, um die Neuigkeiten zu verbreiten. Du weißt doch, sie ist wie eine verbale Zeitung. Nichts bleibt ihr verborgen und nichts bleibt bei ihr. Die ist halt so. Wer diese Flugblätter verteilt hat, wusste genau, wie sich die Nachricht über dieses Plappermaul in der Stadt verbreiten würde. Das war bestimmt jemand aus unserer Stadt. Aber wer ist so klug, auf diese Weise den Inhalt des Flugblattes zu verbreiten?“
„Das ist die eine Seite der Medaille“, ergriff meine Mutter wieder das Wort, „aber was soll denn nun die arme Mutter von Foad tun? Wenn eines unserer Kinder in einer ähnlichen Situation wäre, würde ich vor Angst zittern.“
Mein Vater lenkte ein. „Ja, das ist ein schweres Los für eine Mutter. Denk einfach nicht so viel daran. Glaub mir, das Schah-Regime ist bald Vergangenheit.“
Ich ließ das Buch in meinen Schoß sinken und mischte mich behutsam in die Diskussion meiner Eltern ein. „So, Papa, und was hast du gehört?“
Ich