Marivan unter den Kastanienbäumen. H. Ezadi

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Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi

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der Schule lief ich direkt ins Kaffeehaus. Hier saßen Rentner, die Backgammon spielten, und ich konnte kein bekanntes Gesicht entdecken. Stinklangweilig kam es mir vor. Von meinem Taschengeld bestellte ich mir eine kleine Tasse Tee und wartete ab, ob jemand Bekanntes vorbeikam. Nach einer kleinen Weile trat ein schwitzender Junge durch die Tür und ging direkt zu Abe Balkis, der den Jungen fragte: „Was ist mit dir passiert, Junge, du bist ja ganz außer Atem.“

      „Nein, ja, ja“, sprudelte er heraus. „Ich bin gerannt, ich hatte Glück. Ich komme gerade von Sene zurück, vielleicht haben sie mich wegen meiner Hose in Ruhe gelassen. Ich trage doch nur ganz normale Jeans. Jedenfalls haben sie am Bus-Terminal in Sene auf den Weg nach Marivan alle festgenommen. Jeder, der kurdische Kleidung trug, wurde einfach abgeführt und mit Polizeiautos weggebracht. Ich hatte verdammt großes Glück wegen der Jeans. Na ja, ich habe gelogen und denen gesagt, ich komme nicht aus Marivan. Und sie haben mir geglaubt.“

      „Aha“, lachte Abe. „Dann haben deine Klamotten deinen Arsch vor der Savak gerettet. Aber erzähl: Warum ist jemand verdächtig, der aus Marivan kommt, und wird festgenommen?“

      Ich gesellte mich zu Abe Balkis und dem Jungen, um ihnen zuzuhören.

      Noch aufgeregt, trank der Junge zwei Schlucke von seinem Tee, den Abe Balkis im inzwischen serviert hatte, und begann zu erzählen: „Weißt du, Abe, ich kam aus dem Haus unserer Verwandten in der Agball Straße. Plötzlich sah ich viele Jugendliche aus Marivan und Sene, die dort demonstrierten.“ Manche von ihnen kannte ich. Sie waren laut und hatten Plakate. Sie warfen Steine, als die Polizei sie angriff. Sie schlugen auch Scheiben der Bank Milli und der Bank Sepah kaputt. Ein alter Lebensmittelladen-Besitzer schimpfte: ‚Die Marivaner sind unmöglich, sie können doch in ihrer eigenen Stadt demonstrieren, statt es hier zu tun!‘ Aber der alte Mann irrte. Die auffälligen jungen Leute waren aus Sene, nicht aus unserer Stadt. Diese Demonstranten trugen kurdische Kleidung, daher lag der Verdacht nahe, dass sie alle aus Marivan waren. Sene ist doch heute schon viel moderner. Dort tragen sie eher Jeans und westlich angehauchte Kleidung, ja eben moderner.“

      „Wir verstehen“, sagte Abe Balkis, „aber sag doch mal: Aus welchem Grund wurde denn demonstriert?“

      Der Junge in den Jeans schaute auch zu mir, weil er bemerkte, dass ich ihm mit offenem Mund zuhörte. „Es ging um den Hungerstreik der Gefangenen. Der Anführer des Hungerstreiks ist Foad Soltani. Ich weiß nicht, seit wann Foad inhaftiert ist. Er war doch vor Jahren der Leiter der Energiegesellschaft in Marivan – und dann kam der Stromausfall. So reden die Leute jedenfalls. Die Familienangehörigen und Freunde versammelten sich vor dem Gefängnis und wollten ihre inhaftierten Verwandten sehen. Jedoch erteilten die Savak und die Behörden den Angehörigen keine Erlaubnis. Deswegen fand diese Demonstration statt. Die Demonstranten wollten sich so lange vor den Gerichtshof setzen, bis man ihnen die Erlaubnis erteilte, ihre Verwandten zu besuchen. Sie würden dort nicht eher weggehen.“

      „Ja“, folgerte der Kaffeehausbesitzer, „man sollte zurzeit nicht nach Sene fahren. Das ist viel zu gefährlich.“

      Nachdem ich all diese Neuigkeiten gehört hatte, machte ich mir Sorgen um Jewad und Foads Bruder. Ich wollte den Jungen fragen, ob er die beiden dort gesehen hatte. Aber ich blieb still und beschloss, auf morgen zu warten. Da wollten sie ja zurück sein, zumindest hatte Jewad mir das versprochen.

      Am nächsten Morgen war ich auf dem Weg zur Schule so in Gedanken versunken, dass ich auf einmal vor dem Kaffeehaus stand und nicht vor der Schule. Wahrscheinlich hatte mich meine Sorge um Jewad und Abe Kaweh zu sehr beschäftigt. Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: dass den beiden nichts passiert war.

      Ich beschloss, gleich im Kaffeehaus zu bleiben. In der Schule gab es an diesem Tag sowieso nichts großartig Wichtiges. Für meine Abwesenheit würde ich einfach eine Ausrede erfinden. Also betrat ich das Kaffeehaus und sah einen Bekannten, von dem ich wusste, dass er nie Geld bei sich hatte. Ich hatte keine Lust, ihm seinen Tee zu bezahlen, denn das bisschen Geld, das ich mithatte, reichte gerade mal für mich. Dann ging ich doch hinein und verdrückte mich in die hinterste Ecke des Kaffeehauses. Dort saß bereits jemand, der seinen Kopf über seinen Frühstücksteller neigte und offenbar müde war. Gott sei Dank, es war Jewad! Ich begrüßte ihn: „Hallo Jewad, wann bist du zurückgekommen?“

      Er hob seinen Kopf und fragte: „Was machst du denn hier? Wieso bist du nicht in der Schule?“

      „Ist ja gut! Ich weiß, es ist nicht in Ordnung“, gab ich zu, „aber gestern war hier ein Junge, der schreckliche Sachen von Sene erzählt hat. Es seien viele aus Marivan verhaftet worden. Ich habe mir Sorgen um dich und Abe Kaweh gemacht und wollte wissen, was wirklich passiert ist. Deswegen bin ich hier und nicht in der Schule. Ich könnte mich auch nicht auf den Unterricht konzentrieren. Wann bist du zurückgekommen? Und wo steckt Abe Kaweh?“

      Jewad antwortete: „Abe Kaweh ist in Teheran.“

      „Oh, was, in Teheran?“

      „Jetzt setz dich erst mal hin, Hussein, und lass uns etwas essen. Ich habe gestern Morgen zuletzt gegessen.“

      „Nein danke“, sagte ich. „Ich habe doch schon zu Hause gefrühstückt.“ Ich setzte mich zu Jewad. „Bist du gerade von Sene gekommen?“

      „Nein, ich bin mit meinem Motorrad schon seit Mitternacht zurück. Aber erzähl mir, was der Junge gestern hier berichtet hat.“

      „Der erzählte von der Demonstration in Sene, dass Demonstranten die Fensterscheiben von zwei Banken eingeschlagen haben und dass Steine auf Polizeiautos geworfen wurden. Am Busterminal wurden alle Marivaner festgenommen.“

      „Ja, das stimmt, aber nur zum Teil. Nicht nur am Busterminal, sondern an der gesamten Strecke zwischen Sene und Marivan waren Kontrollen mit Blockaden aufgestellt. Die haben alle Autos kontrolliert und dann haben sie drei Busreisende festgenommen. Insgesamt sind fünfunddreißig Personen festgenommen worden, unter anderem auch die Mutter von Kak Foad und seine Schwester Maleke.“

      Ich war nun erst recht begierig, alles zu hören, was passiert war. „Wenn du nicht mehr so müde bist, Jewad, musst du mir alles erzählen, ja?!“

      „Ich erzähle dir das gern jetzt, Hussein“, lächelte Jewad höflich. „Wie du weißt, fuhren wir gestern mit den Familien Rawschan, Tude und Soltani und anderen Freunden nach Sene. Dort vor dem Gefängnis war es gefährlich für uns. Man hätte uns nicht erlaubt, die Gefangenen im Hungerstreik zu sehen. Viele andere Familien aus Sene waren auch dorthin gekommen. Wir alle wollten zum Gerichtshof gehen und unsere Forderungen stellen. Aber auch dort wurden wir abgewiesen. Wir ließen uns aber nicht wegschicken. Alle riefen: „Wir bleiben hier aus Solidarität, lesen Sie unsere Forderungen für die Gefangenen im Hungerstreik, deren Forderungen sind auch unsere, und zwar so lange, bis Sie die Forderungen erfüllen und der Hungerstreik beendet werden kann.“ Wir alle saßen im Gerichtshof. Die Polizei umringte uns, aber das war noch harmlos. Zwei Stunden später waren die Straßen leer, die Beamten und andere Geschäftsleute machten Feierabend. Erst dann griff uns die Polizei mit Wasserwerfern an. Sie kamen mit Schlagstöcken und griffen uns an, um uns zu vertreiben. Viele mutige Jugendliche wehrten sich und warfen mit Steinen auf die Polizisten. Schließlich schlugen sie einige Fensterscheiben von zwei Banken ein. Dabei gab es Verletzte. Auch Maleke, die Schwester von Foad, wurde verletzt. Die Polizei dachte, diese Jugendlichen seien aus Marivan gekommen, dabei waren die meisten aus Sene.“ Jewad trank einen Schluck Tee und fuhr dann fort: „Noch interessanter ist Sadigh Kamanger. Hussein, hast du von ihm gehört?“

      „Nein, wer ist er?“ Ich kannte seinen Namen nicht.

      „Sadigh Kamanger“, erklärte Jewad, „ist ein bekannter Anwalt aus Sene, der uns bislang sehr geholfen und uns Ratschläge gegeben hat, wie vorzugehen ist. Er pflegt auch

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