Marivan unter den Kastanienbäumen. H. Ezadi

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Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi

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war, als wollten wir uns für später Mut antrinken. Rezgar war der Nächste und die Flasche ging reihum, bis ich als Letzter einen großen Schluck trinken sollte. Ich tat so, als wäre es für mich eine Selbstverständlichkeit, aber ich hatte noch nie in meinem Leben Alkohol getrunken. Ich empfand es als Mutprobe, denn ich wollte mich nicht vor den anderen blamieren. Ich wusste aus eigenen Beobachtungen, dass Alkohol nicht gut für den Körper war, weil er den Geist verwischte. Als mir die Flasche gereicht wurde, erinnerte ich mich an den Vater meines Freundes Jewad. Er war nach zu starkem Alkoholgenuss des Öfteren im Basar umgefallen. Jewad schämte sich sehr für seinen Vater, der häufig mit einer Schubkarre vom Basar nach Hause gebracht werden musste. Man stellte ihn vor der Tür ab und Jewads Mutter musste den Transport bezahlen. Das war mehr als peinlich für die ganze Familie. Es war armselig, wie der Mann im Leben abrutschte. Jedoch konnte man in die Seele eines Menschen nicht hineinschauen, dachte ich. Es konnte jedem passieren, alkoholkrank zu werden, zum Beispiel wenn es Probleme gab, die man nicht lösen konnte. Aber dieses Zeugs, das wusste ich, machte Konflikte im Grunde nur noch schlimmer.

      Ich setzte die Flasche an und nahm einen großen Schluck, als hätte ich das schon hundert Mal gemacht. In meiner Brust wurde es auf einmal ganz heiß. Der Schnaps lief in meinen Magen und mir war hundeelend. Doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich musste würgen, versuchte aber, es zu unterdrücken. Die Flasche kreiste weiter, und als sie endlich leer war, gingen wir alle fröhlich zum Azerga, dem Feuerlager.

      Schon von Weitem hörten wir die Musik, und als wir näher kamen, erschien es mir, als wäre ich in einer anderen Welt.

      Die Farben des Feuers tanzten vor meinen Augen, als mich Nasrin erblickte. Sie war traurig. „Woher hast du diese Kleidung?“, wollte sie wissen. „Ich habe kein schönes Kleid mitgebracht und kann nicht mit euch feiern.“ Sie hatte Tränen in den Augen.

      Ich reichte ihr die Hand zum Tanz und sagte: „Nasrin, du bist auch ohne schönes Kleid ein wertvoller Mensch.“ Dann zog ich sie zum Feuer und wir gesellten uns zu den Tanzenden. Die Musiker spielten unsere kurdische Musik und mir war, als wäre ich losgelöst von allen Sorgen und Anstrengungen des Lebens. Jungen und Mädchen tanzten rund um das Feuer. Es war ein wunderschöner Anblick, die vielen tanzenden Menschen in kurdischer Kleidung und mit fröhlichen Gesichtern zu sehen. Alle Augen, die ich beobachten konnte, leuchteten wie glückliche Blitze und hatten ein Strahlen, als hätte man sich verliebt und würde auf einer Wolke schweben. Die Freiheit kannte keine Grenzen in diesen Glücksmomenten.

      Viele der Jugendlichen waren mit ihrer Pishahang-Uniform gekommen. Aber wir Kurden trugen unsere traditionelle Kleidung und die kurdischen Mädchen zeigten sich in farbenfrohen, langen Kleidern, die im Wind um das Feuer wehten und ein wunderschönes Bild abgaben. Voller Romantik spiegelten sich die hübschen Mädchen mit funkelnden Augen hinter den Farben des Feuers. Es waren unbeschreibliche Bilder. Eine Augenweide im schnellen Rhythmus des Tanzes und unserer Lieder.

      Immer mehr Pishahang, Türken und andere junge Leute gesellten sich zu uns und reihten sich in den Tanz rund um das Feuer ein. Einige von ihnen kannten diese Fröhlichkeit nicht, doch sie ließen sich bald davon anstecken. Wir alle waren plötzlich eins, wir sangen und tanzten. Bis spät in die Nacht hinein waren wir wie eine glückliche Familie. An diesem Abend gab es keinen Unterschied zwischen den Menschen und ihren Kulturen. Viele von den anderen kannten uns Kurden gar nicht, sie glaubten auch nicht, dass wir im Iran leben. Sie waren neugierig und wollten unsere Lieder und deren Inhalte verstehen lernen.

      Es wurde spät, und wir alle gingen in unsere Unterkunft, denn es waren nur noch wenige Stunden bis zum nächsten Morgen. Ich fiel wie berauscht und glücklich in mein Bett und träumte die ganze kurze Nacht von diesem schönen Abend. Es war ein wunderschöner Traum, voller Zufriedenheit und Neugierde, was alles während unserer Ferien im Camp noch passieren würde. Als es Morgen wurde, träumte ich noch immer, jetzt aber anders. In meinem Traum hörte ich ein Lied und dachte in den Bildern meines Traumes, ich sei noch immer am abendlichen Feuerlager. Jedoch war das Lied ein anderes, es war nicht unsere Musik, nicht unser Tanz.

      Vorsichtig öffnete ich nach dieser kurzen Nacht meine Augen und bemerkte, dass dieses Lied kein Traum war. Es klang nach der persischen Sprache und hatte auch keine Melodie. Jemand sprach über die Lautsprecher des Camps und weckte alle zum rechtzeitigen Aufstehen. Mit müden Augen schaute ich zu Mohamed, der noch im Tiefschlaf war. Schnell, aber vorsichtig weckte ich ihn. „Mohamed, wir müssen aufstehen. Es ist schon spät. Wir müssen uns anziehen und zum Frühstück in die Kantine laufen.“ Er reagierte sofort und wir eilten zum Waschhaus. Dort stellten wir uns gemeinsam an das Waschbecken, machten eine Katzenwäsche, putzen uns den Nachgeschmack des Alkohols aus dem Mund und schlüpften, als wir wieder in unsere Hütte zurückgekehrt waren, in Windeseile in unsere Pishahang-Uniform. Dann rannten wir los, um zu frühstücken.

      Die große Kantine war schon voller Jungen und Mädchen. Wir entdeckten das große Büffet, nahmen uns ein Tablett und stellten uns an. Das Angebot an Speisen war sehr reichhaltig, es gab alles, was das Herz begehrte. Verschiedene Brotsorten, Käse, gekochte Eier, auch Wurst auf iranische Art, Marmelade, Honig, Milch und Orangensaft. Noch nie zuvor hatte ich Nahrungsmittel in dieser Dimension gesehen. Aber es musste ja auch für alle reichen. Ich war begeistert.

      Mohameds Augen glänzten und er füllte sein Tablett im Überfluss. Er sagte: „Hussein, mach mir das nach, nimm alles, worauf du Hunger hast.“

      Nachdem unser Tablett übervoll war, bahnten wir uns einen Weg an den Tischen vorbei in die hintere Ecke, wo wir auf Huschiar trafen. Er winkte uns und deutete damit an, dass an seinem Tisch noch Plätze frei seien. Huschiar schaute auf unsere Tabletts. „Mohamed, was hast du denn gemacht? Das kannst du nie im Leben alles aufessen, das reicht ja für zehn Personen!“ Mein Tablett war tatsächlich übervoll und ich schämte mich, weil ich das Gleiche tat wie Mohamed.

      Mohamed, der sich ebenfalls angesprochen fühlte, lächelte nur und sagte: „Das ist doch egal, ich habe einfach zugeschlagen, weil ich noch nie so viele leckere Sachen auf einmal gesehen habe.“

      Huschiar überlegte: „Eigentlich hast du recht, Mohamed. Auch ich habe so einen Überfluss noch nie in meinem Leben gesehen. Ich weiß nicht, wer das alles finanziert. Aber hier kann man mal sehen, wie die Reichen leben.“

      Wir saßen am Tisch und aßen alles, was unser Hunger erlaubte. Hossein, der sich zu uns gesellt hatte, sagte: „Auf der einen Seite bin ich froh, so viel Essen vor meinen Augen zu haben, aber wenn ich an zu Hause denke, an unsere Nachbarn, die acht Kinder haben – deren Vater ist Bauarbeiter und findet im Jahr sechs Monate lang keine Arbeit –, dann ist es traurig. Und seine Frau putzt bei anderen Leuten, durchstöbert auf dem Markt die Abfallkörbe nach verfaultem Obst und versucht auf dem Basar altes Brot zu finden. Ihre Kinder sind armselig gekleidet und tragen alte, gebrauchte Kleidung. Da werde ich nachdenklich und traurig.“

      Wir alle hoben unseren Blick und stimmten Hossein zu. Was er erzählt hatte, machte jeden von uns nachdenklich.

      Wir sahen meinen Lehrer aus Marivan auf unseren Tisch zukommen. „Störe ich euch?“ Als keiner von uns antwortete, fragte er: „Darf ich mich zu euch setzen?“

      „Sie stören doch nicht“, sagte ich. „Bitte nehmen Sie Platz.“

      Nachdem er uns gefragt hatte, wie es uns geht und ob es uns hier gefällt, rückte er mit seinem eigentlichen Anliegen heraus: „Wisst ihr, ich bin aus einem besonderen Grund zu euch gekommen. Gestern Abend habe ich eure Musik gehört, euch beim Tanzen gesehen und möchte mit euch darüber sprechen.“

      Prompt und unaufgefordert reagierte Huschiar: „Wir haben einfach mit allen gesungen, getanzt. Und das Azerga-Feuer war für alle angezündet.“

      Der Lehrer sagte: „Ja, aber ihr habt kurdische Kleidung angehabt.“

      „Na

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