Marivan unter den Kastanienbäumen. H. Ezadi
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Читать онлайн книгу Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi страница 9
„Ja, Jewad, natürlich weiß ich von Mamosta Qaneh. Und ich verstehe, was du meinst. Mein Vater liest manchmal zu Hause aus seinen Büchern. Oft habe ich ihm gelauscht. Ohne Studium kann keiner von uns Politiker werden und für unsere Gerechtigkeit kämpfen. Ohne Wissen kann man nie kämpfen. Das weiß ich auch. Die Machthaber wollen uns in Dummheit hüllen. Nur mit Wissen können wir deren Kampagnen entgegenwirken und kämpfen. Die Machthaber denken ausschließlich an ihr eigenes Wohl und ihren Reichtum und behandeln uns, das Volk, wie eine dumme Viehherde. Aber wir sind es nicht. Ich weiß noch nicht viel über unsere Welt, weil ich noch sehr jung bin. Jedoch bin ich überzeugt, dass es überall auf der Welt gleich funktioniert. Die Menschen arbeiten oft Tag und Nacht, um zu überleben. Sie haben gar keine Zeit nachzudenken. Woher kommt das, warum ist das so? Gott weiß das? Meine Mutter sagt immer wieder, Gott hat das gegeben und das ist das Schicksal für uns Menschen. Aber ich glaube nicht daran, denn jeder hat die Möglichkeit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ Jetzt musste raus, was ich schon so lange mit mir herumtrug: „Jewad, bei uns im Land wird gefoltert! Ich habe von einem Beispiel gehört und weiß nicht, wie viele Fälle es in unserem Land noch gibt.“ Das Beispiel von Hajeje ging mir wieder durch den Kopf. Man hatte ihm Finger- und Fußnägel ausgerissen, nur weil er sich nicht in persischer Sprache hatte wehren können. Hajeje würde immer in meinen Gedanken bleiben, ebenso wie die Ungerechtigkeit in unserem Land. Die Würde des Menschen wurde bis auf das Blut verletzt.
„Oh, Hussein, sehr gut, was du sagst. Diese Reise hat dir offenbar gutgetan. Schön, dass du so denkst. Pass auf, ich mache dir zwei Vorschläge. Ich sorge erstens dafür, dass du während der Ferien eine Arbeit findest, damit du nicht nur etwas Geld verdienst, sondern auch andere Menschen kennenlernst, die sich wie du Gedanken machen und sich sorgen. Sie wissen schon mehr als wir, da sie etwas älter sind. Du solltest mit eigenen Augen sehen, wie hart der Kampf um das Überleben der armen Menschen ist, besonders das der Arbeiter, die tagtäglich für ihren Lebensunterhalt kämpfen und keinen gerechten Lohn erhalten. Zweitens schlage ich dir vor, meine Freunde kennenzulernen. Wir treffen uns dreimal pro Woche, manchmal auch öfter, im Abe Balkis, dem kleinen Kaffeehaus, und spielen Backgammon. Das Spiel ist jedoch nicht das Wichtigste. Wir diskutieren viel. Das Spiel dient dazu, die Neugierigen abzulenken, damit sie sich nicht fragen, warum wir so oft zusammensitzen. Komm doch morgen am Nachmittag dorthin, dann kannst du meine Freunde kennenlernen und selbst von ihnen lernen.“
Das imponierte mir. Voller Freude gab ich Jewad meine Hand und sagte: „Danke Jewad, du bist mein bester Freund. Gern werde ich morgen kommen. Es ist auch egal, welche Arbeit du für mich findest, ich werde sie annehmen.“
Wir verabschiedeten uns und Jewad flüsterte mir noch ins Ohr: „Aber Hussein, behalte das alles für dich, erzähle es niemandem! Unsere Gespräche behalten wir für uns.“
Ich war begeistert. Mit großer Freude schlenderte ich nach Hause. Mein Kopf war voller Gedanken. Ich freute mich, morgen die Freunde von Jewad kennenzulernen. Es waren die besten Menschen in unserer Stadt und mir kam Kak Kawe in den Sinn. Er war anders als die meisten Menschen in unserer Stadt. Immer, wenn ich ihn von Weitem sah, dachte ich, er sei mein Vorbild. Sollte ich einmal heiraten, dann würde ich es so machen wie er. Kak Kawe hatte immer ein Lächeln im Gesicht, für jeden ein gutes Wort, er sah in seiner kurdischen Kleidung stets gepflegt und sauber aus. Manchmal sah ich ihn mit seiner Frau am See spazieren gehen. Es war bei uns nicht normal, dass ein Mann mit seiner Frau Hand in Hand öffentlich spazieren ging. Eigentlich war es verboten.
Kak Kawe war Akademiker. Er hatte in der Oberschule unterrichtet. Wegen seiner politischen Meinung war er vom Ministerium und den Savaks suspendiert und daraufhin arbeitslos geworden. Er durfte nicht mehr unterrichten und hatte wegen seiner politischen Meinung sogar im Gefängnis gesessen. Das Einzige, was ihm und seiner Familie geblieben war, waren eine Unterkunft und ein Auto ähnlich einem Pickup. Er verlieh den Wagen an Bauern, damit sie ihre Ernte von den Feldern zum Markt bringen konnten. Wenn die Bauern kein Geld für das Benzin hatten, gaben sie ihm Kartoffeln und Gemüse. So kam auch bei ihm und seiner Familie warmes Essen auf den Tisch. Er war ein guter Mensch, den die Bauern schätzten. Auch meine Eltern sprachen öfter mit Hochachtung von ihm. Aber er war den Savak-Leuten ein Dorn im Auge.
Kurz bevor ich zu Hause ankam, überlegte ich, welchen Grund ich für morgen vorbringen würde, um in das Kaffeehaus zu gehen. Wenn ich nicht pünktlich nach Hause kam, brauchte ich eine Erklärung für meine Eltern. Ich beschloss zu sagen, dass wir uns für ein Fußballspiel verabredet hatten und ich etwas später nach Hause käme. Das dürfte erst einmal genügen. Später konnte ich immer noch sagen, dass wir uns trafen, um Backgammon zu spielen.
Das Kaffeehaus
Am nächsten Tag nach der Schule lief ich voller Erwartung zu dem kleinen Kaffeehaus und schaute zunächst durch das Fenster. Ich sah Jewad mit den anderen Tee trinken. Er blickte in diesem Moment zum Fenster, als hätte er mich schon lange erwartet, und winkte mit der Hand. „Komm rein!“
Ich betrat das Kaffeehaus und begrüßte alle am Tisch, an dem Jewad saß. Jewad stellte mich vor und ich gab allen mit einem Lächeln die Hand zur Begrüßung. Ich setzte mich auf einen Stuhl und wartete, was passieren würde, hörte zu, worüber sie diskutierten und trank wenige Schlucke von meinem Tee. Jewad ergriff das Wort und fragte in die Runde: „Habt ihr schon von Kak Shwane und von der Weißen Revolution gehört?“ Kak Shwane war ein junger und sehr netter Mann und stammte von den reichsten Familien unserer Stadt. Er genoss einen guten Ruf. Dieser junge Mann, der an unserem Tisch saß, hatte sich im Armenviertel unserer Stadt eine kleine Einzimmerwohnung gemietet, als er noch nicht verheiratet gewesen war. Obwohl sein Vater viele Häuser besaß und das schönste Haus in der Stadt bewohnte, war er von zu Hause ausgezogen. Er wollte nicht in dem Reichtum leben, den sein Vater umgab.
Kak Shwane antwortete Jewad so leise, dass man es nur an unserem Tisch verstand. „Hört mir zu, die Weiße Revolution des Schahs ist westlich geprägt und hat ganz Iran verändert. Diese Reform hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil ergibt sich vor allen Dingen für die Bauern. Bis zur Weißen Revolution haben die Bauern das ganze Jahr über auf dem Feld gearbeitet und mussten nach der Ernte den größten Teil an die Aghs abgeben, also an die Landbesitzer oder Dorfbesitzer. Diese Aghs haben im Leben noch nie richtig gearbeitet, wissen nicht, was Feldarbeit bedeutet, und das seit Jahrhunderten. Keinen Finger haben sie je sich krumm gemacht. Stattdessen beuteten sie die armen Bauern aus und behandelten sie wie Sklaven. Außerdem nahmen sie von den Bauern eine Zwangssteuer, folterten sie, wenn sie ein Wort sagten oder vergewaltigten die jungen Mädchen der Bauernfamilien, um alles, was sie erreichen wollten, mit ihrer Gier nach Geld und Reichtum durchzusetzen. Es ist eine lange historische Geschichte, die unser Volk unterdrückt hat. Auf jeden Fall ist es so, dass die Weiße Revolution endlich greift, es ist ein gutes Zeichen für ein neues Leben unserer armen Bauern in Kurdistan.