Laszive Landhausriten. Thomas Neumeier
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Schwarzlicht brachte jeden Fusel auf den Mönchskostümen zur Geltung. In der Schar der anderen wurde Leo in einen weiten Raum gespült. Im diffusen Dämmerlicht konnte er neben den anderen Robenträgern nur ein paar mächtige Säulen unterm dunklen Gebälk ausmachen. Jede Bewegung wirkte wie in Zeitlupe. Gespräche und Gelächter wurden gänzlich eingestellt. Alle Anwesenden verharrten in stummer Erwartung und starrten dabei in ein- und dieselbe Richtung. Ein leichter Duft wie von gerösteten Mandeln lag in der Luft.
Leos Unruhe nahm mit jeder Minute des ungewissen Wartens zu. Er hatte das Tor überwunden, war ins Haus gelangt und befand sich nun unerkannt unter den anderen Hausgästen. Doch wie ging es weiter? Worauf warteten sie hier unten? Die rituelle Bekleidung aller Beteiligten ließ auf irgendwelche Zeremonien schließen. Die drängende Frage war, mit welcher Art von Geheimgesellschaft er es hier zu tun hatte. Bestand Gefahr für seinen Leib und sein Leben, sollte man ihn enttarnen? Unter seiner Kutte fühlte er sich vorerst sicher, doch wie lange würde er sie anbehalten können? Die kollektive Nacktheit darunter verfolgte sicher irgendeinen Zweck.
Leo rief sich Sandras Vorlieben und Gewohnheiten ins Bewusstsein. Ihre gemeinsame Zeit lag zehn Jahre zurück, doch ihm war, als könnte er jeden einzelnen Moment mit ihr rekapitulieren. Was lockte sie in die Gemeinschaft dieser Leute? Sie war weder ein Faschingsfreund noch außerordentlich religiös. Sollte sie sich in den vergangenen Jahren diesbezüglich neu orientiert haben?
Mit praktiziertem Katholizismus hatte das Geschehen hier definitiv nichts zu tun, so viel stand fest, doch vielleicht fand hier eine Art Schwarze Messe statt. Der rituelle Aufzug aller Anwesenden ließ zumindest darauf schließen. Die Huldigung irgendwelcher esoterischer Mächte konnte jedoch kaum das einzige Lockmittel sein, das so viele augenscheinlich gutsituierte Leute in diese Mauern köderte. Letztendlich ging es um Sex, dessen war sich Leo weitgehend sicher.
Als ihm das Warten nach etwa fünf Minuten unerträglich wurde, schaute sich Leo vorsichtig um. Er versuchte seine Kapuze dabei so wenig wie möglich zu bewegen. Wie weit die Wände des Raums weg waren, konnte er bei den vorherrschenden Lichtverhältnissen nicht ausmachen. Nicht einmal die Kellerflucht war noch zu erkennen, nachdem jemand die Tür geschlossen hatte. Als leise Streichermusik einsetzte, gewann Leo anhand der Akustik den Eindruck, sich in einem gewaltigen Saal aufzuhalten.
Mit den Streichern glommen verschiedenfarbige Lichter auf. Sie erhellten ein Podium, das keine zehn Meter von Leo entfernt seinen Anfang nahm. Über die vermummten Köpfe der anderen Wartenden hinweg identifizierte er im schemenhaften Licht diverse Kulissen und Utensilien. Da war ein Tisch, eine Liege und eine fratzenhafte Statue gleich einem menschgewordenen Raubtier. Das große Gebilde gleich daneben schien Leo ein Galgen zu sein. Diese Annahme bestätigte sich, als die Lichter an Intensität gewannen. Auf dem Podium war ein massivhölzerner Galgen aufgebaut. Die hintergründigen Kulissen repräsentierten eine mittelalterliche Stadt. Leo bekam es mit der Angst zu tun. Sollte hier heute Abend jemand hingerichtet werden?
Wenig später nahm ein groteskes Theaterstück seinen Anfang. Die Streichermusik verstummte, woraufhin ein Mann und eine Frau das Podium betraten. Die beiden trugen nichts außer unheimliche schwarze Vogelmasken. Sie wechselten ein paar gestelzte Phrasen über Befreiung, Verfolgung und Leidenschaft, dann begann der Mann die spitzen Brüste seiner Partnerin mit seinen Fingern zu stimulieren. Leo war klar, was nun folgen würde. Das Ganze war ein okkult angehauchter Live-Sex-Act.
Unter weiteren eigenartig formulierten Dialogen gingen die beiden Akteure zu Werke. Der Penis des Mannes erigierte, als die Frau ihn beidhändig mit Daumen und Mittelfinger befühlte und streichelte. Die geschlechtliche Vereinigung sollte ihnen jedoch verwehrt bleiben. Weitere Akteure betraten die Bühne und trennten die beiden gewaltsam voneinander. Auch die neu Hinzugekommenen trugen nichts außer Masken am Leib, Masken, die lediglich ihre Augenpartien verhüllten. Eine Frau, deren Stirn eine Pfauenfeder zierte, schwang sich zu einer nach Leos Ansicht weitgehend sinnfreien Rede in Versform auf, woraufhin sich das sexuelle Treiben fortsetzte. Zwei Damen fielen über den Vogelmann her, die Vogelfrau wurde von zwei Herren bedient. Ein weiteres Pärchen ging zu Fuße des Galgens zur Sache.
Unter seiner Robe erigierte auch Leos Penis. Das schamlose Schauspiel nahm ihn gefangen, faszinierte ihn, drohte ihm beinahe die Sinne zu rauben. Er war sich sicher, dass der eigentümlich süßliche Duft, den er schon eine ganze Weile schnupperte, zu seinen Regungen und neuerlichen Fantasien beitrug. Ob Sandra eine der Akteurinnen war? Den Gedanken empfand Leo ungeahnt aufregend. Er beäugte die weiblichen Darsteller ganz genau, ihre gesichtslosen Münder, ihre Brüste, ihre Beine, ihre geöffneten Vaginas. Zehn Jahre waren eine zu lange Zeit, wie er feststellte. Er konnte unmöglich verifizieren, ob einer dieser ekstatisch zuckenden Körper der von Sandra war.
Die orgiastischen Liebesspiele auf dem Podium hielten an und wurden nur hin und wieder von den vermeintlich poetischen Auswürfen der Beteiligten unterbrochen, wenn sich Stellungen und Konstellationen neu ordneten.
Dass sich die Lichtverhältnisse im weiteren Voranschreiten der Inszenierung weiter geändert hatten, war Leo aufgrund des lasziven Schauspiels weitgehend entgangen. Als er bemerkte, dass einige Umstehende ihre Plätze aufgaben und dem Theaterstück den Rücken kehrten, schaute er sich um. Im rückwärtigen Bereich des Saals, wo zuvor alles in Finsternis ruhte, hatten sich ebenfalls Lichter eingeschaltet. Viele kleine Salzkristalllampen tunkten eine Ansammlung von Laken, Polstern und Liegen in ein tiefes Purpur. Etliche Vermummte machten sich auf den Weg in das Areal. Leo beobachtete, wie sie ihre Roben abwarfen und sich dann zu Paaren oder in kleinen Grüppchen niederließen. Eine kollektive Orgie nahm ihren Anfang.
Die Reihen der Zuschauer hatten sich gelichtet, doch die Podiumsaktivisten waren noch leidenschaftlich bei der Sache. Als Leo sich wieder zu ihnen umwandte, sah er sich einem anderen Robenträger gegenüber. Ein Gesicht war unter der Kapuze nicht auszumachen.
Instinktiv wich Leo einen Schritt zurück. Er fühlte sich ertappt, durchschaut, entblößt. Dass sich unter seiner Robe zudem sein erigiertes Glied abzeichnete, intensivierte dieses Gefühl. Obgleich er die Augen seines Gegenübers nicht ausmachen konnte, spürte er, wohin dessen Blick gerichtet war.
Leo war kurz davor, Reißaus zu nehmen, als sich zwei filigrane Hände von der vor ihm stehenden Robengestalt lösten und sich zu der verräterischen Ausbeulung an seiner Körpermitte aufmachten. Es waren zweifellos die Hände einer Frau. Leo ließ zu, dass sie durch den groben Stoff der Robe seinen Penis befühlte, sehnte sich sogar nach dieser intimen Berührung.
»Bist du allein?«, sprach eine leise, feminine Stimme unter der Kapuze.
»Yeahhh«, gab Leo als ein verunglücktes Stöhnen von sich.
Die zärtlichen Finger ließen von seinem Penis ab und strichen über den Stoff zu seiner Brust hinauf. Erst am Ansatz seiner Kapuze machten sie Halt. Leo hingegen hatte seine beiden Hände zur absoluten Untätigkeit eingefroren. Selbst wenn er es gewollt hätte, er hätte nicht verhindern können, dass ihm die vermummte Frau die Kapuze zurückschlug und ihn damit allen Anwesenden preisgab.
Selbst jetzt konnte Leo nur an Sandra denken. Schaute sie ihm gerade zu? Steckte sie unter einer der Kapuzen? Oder war das Geschöpf ihm gegenüber gar niemand anderes als sie?
Die nagende Neugier brachte Kraft und Leben in seine Hände zurück. Er strich seinem Gegenüber behutsam über die Schultern und nahm ihre Kapuze in Besitz. Als er sie zurückschlug, kam ein hübsches Gesicht, eingerahmt von langen dunkelroten Haaren, zum Vorschein. Ihr Anblick verdrängte sogar das imaginäre Gesicht von Sandra ein paar Momente lang aus Leos Bewusstsein.
»Komm«, sprach die Unbekannte und nahm Leo an die Hand.