Blutige Maiglöckchen zum Hochzeitstag. Manfred Eisner
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Kein Wunder dann auch, dass ein zweites, in meinen beiden früheren Heimatsländern geltendes Anstandsgesetz, namentlich, dass ein Mann NIEMALS seine Hand gegen eine Frau erheben dürfe, heute offensichtlich bei uns nur noch beschränkte oder auch gar keine Geltung mehr hat. Aus dem Bericht des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden (BKA) für das Jahr 2015 geht hervor: »Mehr als 100.000 Frauen pro Jahr werden in Deutschland Opfer von Gewalt in der Partnerschaft!« Nicht weniger alarmierend klingt der einschlägige Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im selben Jahr: »Frauen sind von häuslicher Gewalt mehr bedroht als durch andere Gewaltdelikte – jede vierte Frau erlebt Gewalt durch ihren Lebenspartner.« Des Weiteren besagt die Statistik, dass rund 25 Prozent der Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren mindestens einmal Gewalt in der Ehe erlebt haben.
Körperliche Misshandlungen umfassen ein breites Spektrum unterschiedlich schwerwiegender Gewaltanwendung. Die Gemeinheiten reichen von wütendem Wegschubsen und Ohrfeigen bis hin zu Schlagen mit Gegenständen, Verprügeln und sogar Gewalttaten mit Waffen. Die Angaben zu sexuellen Übergriffen beziehen sich auf eine enge Definition erzwungener sexueller Handlungen, das heißt Vergewaltigung und sexuelle Nötigung. Zwei Drittel der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen haben schwere oder sehr schwere körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlitten. Immerhin gibt es aber desgleichen – allerdings meist aus Scham nur unter vorgehaltener Hand zugegeben – nicht wenige Fälle, in denen Frauen ihren männlichen Partner ebensolche psychische, bisweilen sogar minderschwere oder schwere physische Gewalt antun.
Hält sich der betroffene Mann an die oben zitierte Verhaltensregel, dass er sich nicht in gleicher Weise tatkräftig gegen eine aggressive Frau wehren darf, gerät er in die ebenso prekäre defensive Situation wie gleichgenötigte Frauen. Aus einer solchen misslichen Lage gibt es eigentlich nur einen konsequenten Ausweg: den Partner anzuzeigen und sich schleunigst von ihm zu trennen. In – viel zu – vielen Fällen tun es die Leidtragenden jedoch nicht. »Ich liebe ihn/sie doch, er/sie hat es nicht so gemeint, liebt mich doch auch, hat sich dafür entschuldigt und mir heilig versprochen, damit aufzuhören!«, sind die in den meisten Fällen angeführten Ausreden des betroffenen Partners und dessen fadenscheiniger Grund, von diesem einzig folgerichtigen Schritt zurückzuschrecken. Bis es dann – erfahrungsgemäß – dennoch wieder und immer wieder vorkommt. Zahlreiche Fallstudien über häusliche Gewalt in den Beziehungen zwischen hetero- sowie homosexuellen Lebenspartnern belegen, dass der Mensch im Grunde seine animalischen Instinkte nur durch eine angepasste Erziehungsweise zur Gewaltlosigkeit im Zaum zu halten vermag. Geraten solche Charaktereigenschaften wie zum Beispiel Angst, Wut, Gier, ungebremstes Sexverlangen oder Eifersucht – nicht zuletzt verbunden mit Alkohol- oder sogar Drogenkonsum – außer Rand und Band, agieren er oder sie gemäß solchen ungebremsten Ur-Verhaltensweisen.
Die in diesem Roman geschilderten Geschehnisse sowie sämtliche darin vorkommende Namen und Positionen sind fiktiv und von mir frei erfunden. Eine etwaige Übereinstimmung mit real existierenden Personen oder Begebenheiten wäre rein zufällig. Ich greife dieses Thema auf Anregung einer lieben Schriftstellerkollegin auf, weil wir beide der Meinung sind, dass dieser schändliche Makel unserer Gesellschaft nicht oft genug angeprangert werden kann. Jedenfalls betrachte ich es heute deshalb als durchaus angebracht, dass wir den § 223 in unserem Strafgesetzbuch haben, um solche verachtungswürdigen Verhaltensabgründe zu ahnden.
Manfred Eisner, im Winter 2018
Nili und Waldi
»Mira! Komm!«
Doktor Knut Treibert, ein athletisch anmutender und hellblonder Mann Mitte dreißig, ruft seiner Jagdhündin hinterher, die plötzlich wie ein Blitz losgepirscht und im Walddickicht verschwunden ist, bevor der Jäger sie zurückhalten konnte. Zur Bekräftigung des Befehls bläst er einen kurzen Doppelpfiff auf der Signalpfeife, die an einer Kordel um seinen Hals hängt. Der tüchtige Zahnarzt mit der gut gehenden Praxis in der Kieler Innenstadt hat das eigene Jagdrevier des vor Kurzem verstorbenen Vaters geerbt beziehungsweise die dazugepachteten Flächen, die an seine eigene etwa einhundertzwanzig Hektar große Länderei angrenzen, mit übernommen. Dichter Mischwald alterniert hier und dort mit weiten Ackerflächen, auf denen bereits der erste knallgelbe Raps mit betörendem Duft blüht oder Winterweizen und Gerste für dieses Jahr kräftiges Wachstum andeuten. Der Doktor lauscht in den Wald hinein: Nur das Rauschen des Windes im hellgrünen Frühlingslaub ist zu vernehmen. Dann hört er in einiger Entfernung das vertraute, jedoch wütende Gebell seiner rotgoldenen Magyar-Vizla-Vorsteherhündin, die ihm damit signalisiert, eine Beute ausfindig gemacht zu haben. Der Jäger ist etwas verwundert, war er doch eigentlich auf dem Wege zu seinem Hochsitz, denn ab dem 1. Mai ist die Jagdsaison auf Rehböcke eröffnet. Lautes Rauschen unterbricht die Stille, zwei jüngere Bachen huschen, weil offensichtlich von Miras Erscheinen aufgescheucht, in wildem Galopp an ihm vorbei.
Während er in die Richtung eilt, aus der er Miras Bellen ausmacht, mutmaßt Treibert, ob es sich vielleicht um ein von benachbarten Jägern angeschossenes Tier handeln könne, das sich verwundet in sein Revier verkrochen hat.
»Halt, Mira! Und down!«, befiehlt er und pfeift einen längeren Triller hinterher. Als er zu der Stelle gelangt, an der die Hündin mit hechelnder Zunge brav dem Befehl folgend vor einer offensichtlich frisch gegrabenen leichten Erderhöhung im Waldboden liegt, lobt er sie mit wiederholten Streicheleinheiten und legt sie an die Leine, um sie einige Meter von der makabren Fundstelle zurückzuziehen. Längst hat er mit Schrecken die blutigen Überreste eines menschlichen Arms entdeckt, der seitlich aus dem Tumulus herausragt. Die Wildsauen hatten offensichtlich kurz zuvor die Stelle aufgespürt und sich bereits daran zu schaffen gemacht, als sie dabei von Mira gestört und verjagt wurden.
Der Zahnarzt zieht sein Smartphone aus der Tasche und geht einige Schritte weiter bis zu einer nahe gelegenen Lichtung, an der endlich ein Empfangssignalstrich auf dem Display erscheint. Er tippt auf die App, mit der er das GPS aktiviert, und stellt die genaue Ortung fest. Dann wählt er die 110.
*
Ein langer Abend steht an diesem Freitag Kriminalhauptkommissarin Nili Masal, ihres Zeichens Leiterin des vierköpfigen Teams für Sonderermittlungen im Kieler LKA, und ihrem direkten Vorgesetzten und Lebensgefährten, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Walter Mohr, bevor: der festliche Empfang, mit dem Nilis Freundin Dr. jur. Kathja Harmsen, Tochter des Oberstaatsanwalts Hinrich Harmsen, ihren frisch erworbenen Doktorhut in den urigen Räumen der ›Hafenwirtschaft‹ in der Kieler Kanalstraße feiert. Die geräumige Gastwirtschaft bietet just genügend Raum für die zahlreichen geladenen Gäste. Kitt, wie sie im vertrauten Umfeld genannt wird, ist die einzige Tochter