Sein Leben schreiben. Emil Angehrn
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So bleibt beides genauer zu bestimmen: die Glückseligkeit des Einswerdens mit dem Vergangenen und die Freude der geduldigen, beschwerlichen Arbeit der Memoria, und ebenso die ihnen korrespondierenden, unterschiedlichen Modalitäten des Erinnerns, des Zurückgehens ins Vergangene und Gegenwärtigwerdenlassens des Gewesenen. Offensichtlich ist nicht einfach die eine Gedächtnisform die Norm der anderen, sowenig sie ihre Grundlage oder ihren Horizont bildet. Gleichwohl sind sie, bei aller Fremdheit, nicht losgelöst voneinander. Sie verweisen aufeinander in ihrem Vollzug wie ihrer subjektiven Erfüllung. Diese Verweisung aufzuhellen gehört zur Verständigung über Begriff und Praxis des Erinnerns. Dazu legt es sich nahe, von der unwillkürlichen Erinnerung, als Präsenz- und Glückserlebnis, auszugehen, um in einem zweiten Schritt der Frage nachzugehen, auf welchem Weg und mit welchen Mitteln die bewusste, methodische Erkundung des Vergangenen, das Schreiben des Lebens ein Analogon jener Gegenwart und jener Erfüllung erstreben, möglicherweise herbeiführen kann. So soll der erste Schritt vom Glückserlebnis, dem eigentümlichen emotionalen Überwältigtsein ausgehen und von ihm aus erforschen, in welcher Weise hier Vergangenes gegenwärtig, das Vergehen überwunden wird. Der zweite Schritt geht gewissermaßen in Gegenrichtung von der Erforschung und Sammlung des Vergangenen aus, um die Frage anzuschließen, in welcher Weise solche Suche und Vergegenwärtigung einem Bedürfnis und einer Sehnsucht menschlichen Lebens entspricht.
Dabei bieten die beiden Schritte die Möglichkeit, die Erinnerungsproblematik in zwei für sie konstitutive Dimensionen hinein auszuweiten, in die Dimension der Zeit und diejenige der Sprache. Auf der einen Seite markiert die mémoire involontaire eine herausgehobene Figur existentieller Zeitlichkeit, genauer des modalen, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgespannten Zeitbewusstseins, indem sie das unablässige Vergehen aller Dinge auf die reine Gegenwart des Erlebten hin überschreitet, in gewisser Weise die Zeit selbst auf die Zeitlosigkeit hin transzendiert. Vom Erleben dieser Koinzidenz aus ist Erinnerung als solche im Horizont der Temporalität des Lebens in ihrer Bedeutung, ihrer Macht und ihren Grenzen zu reflektieren. Auf der anderen Seite vollzieht sich die intentionale Ver-Gegenwärtigung des Vergangenen nicht rein bewusstseinsimmanent, sondern greift aus auf Formen der Vergegenwärtigung, allen voran die Sprache, in welcher Gewesenes festgehalten und interpretiert, Prozesse strukturiert und angeeignet werden. Hier kommt Erinnerung als eine besondere Form der umfassenden Darstellung und Reflexion in den Blick, in welcher der Mensch sich über sich selbst, über sein Leben und die Welt verständigt; die Sprache, höchstes Vermögen und Auszeichnung des Menschen, bildet das Medium, in welchem er sich auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges bezieht, sein Leben schreibt. Die Frage nach der Erinnerung gilt dem Rückblick in der Zeit ebenso wie dem Selbstsein als Ausdruck und reflexiver Selbstfindung. Eine Verständigung über Erinnerung ist nicht ablösbar von Überlegungen zur Zeit, zur Sprache und zum menschlichen Selbst. Zeit und Sprache sind Wesensbestimmungen der menschlichen Lebensform, die zugleich auf Grundfragen der Philosophie verweisen, die hier nicht in ihrer ontologischen und erkenntnistheoretischen Weite, sondern in ihrem existentiellen Bezug aufzugreifen sind. Von ihnen soll die folgende Untersuchung ihren Ausgang nehmen. Sie spannen den Horizont auf, innerhalb dessen es darum geht, das Faszinosum der Erinnerung zu ergründen und ihre Binnenstruktur ebenso wie ihren Ort im menschlichen Leben zu erhellen.
I.
1. Das sich verstehende Leben
1.1 Das Selbstverhältnis des Lebens
Menschliches Leben gilt als die höchste Form des Lebens. Dies nicht einfach deshalb, weil in ihm das Lebendige seine höchsten Fähigkeiten entwickelt und seine höchste Gestalt ausbildet, weil sich das Leben im Menschen von der Bewegtheit des Natürlichen zum Leben des Geistes erhebt. Genauer liegt die Steigerung darin, dass sich im Menschen der Grundzug des Lebens, selbstbezügliche Bewegung zu sein, in neuer Form ausprägt. Menschliches Sein hat Teil an der spezifischen Prozessualität, welche das Leben als solches ausmacht und die sich durch Selbstbezüglichkeit auszeichnet, als eine Bewegung, die aus sich kommt und auf sich selbst gerichtet ist. In basaler Form ist die Reflexivität diejenige des Lebens, das sich selbst bejaht und das Leben will. Das dem Leben immanente Streben ist eines, das nicht nur auf irgendwelche Ziele und Leistungen gerichtet ist, sondern in reflexiver Form nach der Erhaltung, ja, Steigerung des Lebens selbst strebt. In der klassischen Naturphilosophie ist diese Prozessform als teleologische gefasst worden, als zweckmäßige Gerichtetheit der Naturwesen, die in ihrem Aufbau und ihrer Bewegung, im Einschlagen von Wegen, Koordinieren der Teile und Verwenden von Mitteln auf ein Ziel, zuletzt auf das Sein des Lebendigen selbst gerichtet sind. Durch ihre gestaltende und synthetisierende Kraft strukturieren Lebewesen die Funktionsweise des Organismus und dessen Entwicklung in der Zeit. Wenn auch menschliches Dasein an der funktionalen Selbstregulierung und selbstbezüglichen Dynamik des Lebendigen teilhat, so besteht die Steigerung, welche die höhere Seinsform des Menschen kennzeichnet, nicht in einer bloßen Optimierung der Selbstregulierung und dynamischen Potenzierung des Lebens. Vielmehr geht es darum, dass der Selbstbezug des Lebens auf eine andere Ebene gehoben, in einer anderen Form realisiert wird. Menschliches Leben ist bewusstes Leben, von sich wissendes, sich über sich verständigendes, sich beschreibendes Leben.
1.2 Bewusstes Leben
Menschliches Leben ist, wie tierisches Leben, für sich seiendes Leben. Es ist nicht nur ein objektiver, final strukturierter Prozess und auch nicht nur ein funktional-selbstbezüglicher, auf das Wohl und Weiterbestehen des Organismus gerichteter, ihm zugute kommender Verlauf. Es ist für sich in dem Sinne, dass es dem lebenden Subjekt explizit gegeben ist, als Gegenstand vor Augen steht, so dass es sich bewusst auf sein Leben beziehen, sich zu ihm verhalten kann. Dieses bewusste Verhalten zu seinem Leben hat eine theoretische und eine praktische, eine kognitive und eine voluntative Dimension. Menschliches Leben ist von Beginn an ein sich spürendes, sich gewahrendes, sich selbst erfahrendes Leben. Phänomenologische Beschreibungen haben die basale Selbstaffektion und Selbstwahrnehmung aufgezeigt, die dem lebendigen Existieren je schon innenwohnt. Die Intentionalität, die das Merkmal bewussten Lebens bildet, geht nicht auf im Gerichtetsein auf äußere Gegenstände, sondern enthält immer auch das Für-das-Subjekt-Sein dieses Bezugs; Bewusstsein von etwas geht mit dem zumindest impliziten Bewusstsein seiner selbst einher. Darüber hinaus aber gibt es das ausdrücklich dem eigenen Selbst, der seelischen Befindlichkeit und dem eigenen Körper zugewandte Bewusstsein, wie es namentlich in einer von der Leiblichkeit ausgehenden Analyse betont wird. Das Lebendigsein des Menschen ist nicht nur ein objektiver Befund, sondern verbindet sich von vornherein mit dem subjektiven