Sein Leben schreiben. Emil Angehrn

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Sein Leben schreiben - Emil Angehrn

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       (a) Dimensionen des Zeitlichen

      Wenn wir nach der Zeit des Lebens, dem Zeiterleben im menschlichen Dasein fragen, so wird eine Unterscheidung relevant, die in Zeittheorien oft als Grundraster fungiert: die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Zeit. In unserem Zusammenhang interessiert die Differenz nicht im Blick auf die prinzipielle Frage nach der Konstitution, dem ontologischen Ort der Zeit. Es gibt, auch im Raum der Existenz, die Zeit, die mein Erleben strukturiert, mein Zurückblicken auf Erlebtes und mein Entwerfen und Hoffen trägt, und es gibt die Zeit, die unabhängig von meinem Tun, meinem Verweilen und Drängen verläuft, für dieses einen Grund und Rahmen, je nachdem eine Gegendynamik bildet. Immer steht die innere Zeitlichkeit des Lebens im Verhältnis zu einer Zeit, die nicht nur aus dem Leben kommt, nicht in seiner Macht, zumal der des einzelnen Lebewesens, steht.

      Zu dieser basalen Differenz kommt eine zweite hinzu, welche die Auffassungsweise des Zeitlichen betrifft. Seit der ältesten theoretischen Reflexion wird dieses nach zwei unterschiedlichen Rastern thematisiert, der Differenz von Vergangen – Gegenwärtig – Zukünftig und dem Schema von Früher – Gleichzeitig – Später. Es ist bemerkenswert, dass sich diese beiden Begriffsraster schon früh – etwa in den klassischen Zeitabhandlungen bei Platon, Aristoteles, Augustinus – finden und durch die Tradition hindurchziehen, in neueren Diskussionen meist im Anschluss an einen Vorschlag von McTaggart3 als A-Reihe und B-Reihe bezeichnet; bemerkenswert ist auch, dass gerade in der neueren Diskussion die Frage ihres Verhältnisses aufgeworfen wird, wobei ihre gegenseitige Nicht-Reduzierbarkeit zum Thema wird. Von Interesse in unserem Kontext ist das Verhältnis zur ersten Differenz von objektiver und subjektiver Zeit. Zwischen ihnen besteht keine einfache Analogie, sofern beide Raster von Früher – Gleichzeitig – Später und Vergangen – Gegenwärtig – Zukünftig innerhalb des subjektiven Auffassens und Artikulierens zum Tragen kommen: Wir strukturieren die Zeit unseres Lebens und vergegenwärtigen Phasen unseres Lebens nach beiden Relationen. Doch sind sie beide nicht in gleicher Weise subjektbezogen: Während die erste die relative Position von Ereignissen in einem Abfolgeverhältnis unabhängig vom Erleben bezeichnet und im Verlauf der Zeit unverändert bleibt, definiert sich die zweite im Bezug zu einem gegenwärtigen Referenzpunkt, idealiter dem Standpunkt subjektiven Erlebens und Auffassens, und verschiebt sich mit dessen Voranschreiten in der Zeit. Erlebnisse der frühen Kindheit bleiben immer hinter denen des Jugendlichen zurückliegend, während dessen nahe Zukunft dem Älteren zur Vergangenheit wird.

      Die Dualität der Auffassungsweisen gehört mit zur Grundstruktur existentieller Zeitlichkeit. Ihre lebensweltliche Relevanz hat sie darin, dass sie das subjektive Erleben in Polarität zu einer nicht aus dem Subjekt kommenden, nicht (nur) in ihm verorteten Temporalität setzt. Es ist eine Polarität, die das Leben in der Zeit von Grund auf affiziert und die sich über die genannten Relationen hinaus erstreckt. Der Mensch bezieht sich in der Zeitlichkeit seines Lebens zugleich auf die Zeit der Welt, die Naturzeit wie die geschichtliche und soziale Weltzeit. Lebenszeit und Weltzeit4 bilden ein Verhältnis, welches das menschliche Leben umfängt und es zugleich in seinem Inneren betrifft und strukturiert, wie der Mensch generell mit der Welt kommuniziert, Gehalte und Formen der Sinnbildung aus der Welt aufnimmt und in sie hinein entwirft. Es ist eine Beziehung, in welcher unterschiedliche Zeitgefäße, Rhythmen und Verlaufsfiguren ineinander spielen und nebeneinander laufen, sich verschränken und sich gegeneinander sperren. Jenseits der Weltzeit kann sich das Leben auf eine der Sukzession enthobene Ordnung beziehen, das Verhältnis von Innerzeitlichem und Überzeitlichkeit eröffnen. Auch dieser Bezug kann als innere Dimensionalität des Selbst erschlossen, im Entwurf des Lebens verankert werden, das sich auf eine höhere Zeit hin öffnet.5

       (b) Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

      Von diesen externen Bezügen haben wir nun zur Binnenstruktur der existentiellen Zeitlichkeit zurückzugehen, die für die folgenden Betrachtungen den Ausgangspunkt bildet. Ihr Herz bildet die sogenannte dimensionale Zeit, das Aufgespanntsein des Lebens zwischen den Dimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft (entsprechend der genannten A-Reihe). In allem, was er ist und erlebt, findet sich der Mensch in diesem Horizont der Zeit, alles was er tut, vollzieht er in diesem zeitlichen Raum. Die moderne Phänomenologie hat die Konstitution der Zeit, die Ausbreitung des zeitlichen Feldes und das Unterwegssein der zeitlichen Bewegung als Grundlage und inneren Nerv aller Erfahrung herausgearbeitet. Immer kommen wir von Vergangenem her, finden wir uns in einem Hier und Jetzt und sind handelnd oder erwartend auf Kommendes gerichtet; diese zeitliche Substruktur ist im körperlichen Tätigsein, im sozialen Interagieren, im Schreiben eines Buchs oder im Musikhören (Paradigma der Zeitanalyse) gleichermaßen vorausgesetzt und an der Gestaltung des jeweiligen Gegenstandes beteiligt. Zuletzt wird die Konstitution des Subjekts selbst, sofern dieses nicht nur abstrakter Bezugspunkt der Erscheinung der Dinge, sondern für sich seiendes Selbst ist, in ihrer temporalen Dichte und Verweisung sichtbar. Die Temporalstruktur durchdringt das Subjekt und seine Welt in gleicher Weise.

      Das Hauptgewicht der existentiellen Reflexion gilt nicht der allgemeinen Struktur, sondern den einzelnen Dimensionen dieses zeitlichen Ausgespanntseins. Es sind drei Ausrichtungen, die ihre Konkretisierung in unterschiedlichen Haltungen und Verhaltensweisen finden und mit denen sich je eigene Leitideen und Probleme verbinden.

      In seiner ersten, ursprünglichen Haltung scheint menschliches Leben der Zukunft zugewandt. Seine Dynamik ist die einer teleologischen Gerichtetheit. Leben ist eine vorwärts drängende Bewegung; als strebender und handelnder ist der Mensch auf Ziele gerichtet, die vor ihm liegen. Kognitive, affektive, praktische Haltungen schreiben sich dieser Gerichtetheit ein. Als erwartendes, planendes, antizipierendes, aber auch hoffendes, fürchtendes Lebewesen hat der Mensch die Zukunft in allen möglichen Gestalten vor sich: als offene oder geschlossene, bekannte oder verdeckte Zukunft, als erfüllende oder bedrohliche, als von ihm selbst herbeizuführende oder ihm entgegenkommende, über ihn hereinbrechende Zukunft. Wenn der Mensch für die Existenzphilosophie ein sich selbst verstehendes und sich interpretierendes Wesen ist, so ist er dies in erster Linie darin, dass er sich auf seine Möglichkeiten hin entwirft und sich von ihnen her begreift. Sich aus der Macht seines Könnens verstehen heißt sich mit Bezug auf die Zukunft, auf seine Zukunft hin verstehen. Indessen ist die Zukunft nicht in seine Hände gelegt. So fundamental wie das Ausgreifen und Sichentwerfen ist die Erfahrung des Nichtverfügens, des Nichtkönnens und der Ohnmacht. Doch ebenso kann ihm die Zukunft als Verheißung entgegenkommen, als Raum der Utopien und Wünsche geöffnet sein. Emphatische Konzepte nehmen eine Zukunft in den Blick, auf welche das Subjekt nicht ausgreifen und die es nicht vorhersehen kann, sondern die ihm entgegenkommt und sich ihm öffnet – gleich dem Anderen, den ich nicht erwarten kann und der auf mich zukommt.6 Sich nicht von seinem Grund und Ursprung her zu verstehen, sondern vom Ausstehenden und Entgegenkommenden, den latenten Tendenzen und den nach vorne drängenden Bewegungen her, ist die Umkehrung, die Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung fordert.

      In so vielfältiger Gestalt wie die Zukunft erscheint die Vergangenheit im Leben des Menschen. Sie eröffnet ihm Möglichkeiten und sie engt ihn ein, sie trägt ihn in seinem Sein und sie drückt ihn nieder. Sie legitimiert ihn und klagt ihn an, sie ist Quelle der Befreiung und lähmende Macht. In allen Formen gehören das Vergangenheitsbewusstsein, das bewahrende Gedächtnis, die vergegenwärtigende Erinnerung zum menschlichen Leben. Je nach dem Charakter des Vergangenen, den Erfordernissen der Gegenwart und der seelischen Disposition der Menschen gewinnt Erinnerung für sie einen verschiedenen Stellenwert. Dem hohen Lied der Memorialkultur steht die soziale Marginalisierung, zuweilen die polemische Verbannnung des Gedächtnisses gegenüber. Für den einzelnen wie für die Gesellschaft kann beides zum vitalen Bedürfnis werden, die Vergangenheit aufzuarbeiten und kritisch zu durchleuchten, aber auch mit ihr zurecht zu kommen, sie ruhen zu lassen, sich von ihr frei zu machen. Worauf das Bedürfnis geht, kann gleichzeitig zur Belastung, zur existentiellen Herausforderung werden. Der Rückblick und die Besinnung können Gegenstand der Freude und des Stolzes, aber auch der Scham und der Trauer sein. Auch erkenntnismäßig findet der Bezug zum Vergangenen in variierenden, teils

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