Sein Leben schreiben. Emil Angehrn

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Sein Leben schreiben - Emil Angehrn

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stehen, aber auch verdeckt und verborgen sein, sich dem Erinnern hartnäckig verschließen.

      Gegenüber den beiden Zeitekstasen ins Gewesene und Künftige erscheint die Gegenwart zunächst wie der neutrale Bezugspunkt, der nichtthematische Boden der Zeitreflexion. Indessen verbinden sich auch mit ihr genuine Zeitvorstellungen, denen sowohl ontologische wie anthropologische Bedeutung zukommt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft erscheint Gegenwart als Schwelle und Übergangspunkt, als der flüchtige, nicht festzuhaltende Augenblick des Umschlagens vom Kommenden ins Gewesene, vom Möglichen ins Wirkliche. Als ausdehnungsloser Moment scheint sie keine eigene Realität, kein wirkliches Sein zu besitzen. Doch kann sie auch umgekehrt als das allein Seiende erscheinen, dem gegenüber das Vergangene und das Künftige, als abwesende, nicht da-seiende, in Wahrheit nicht ›sind‹. Die eigentümliche Doppelvalenz findet ihre Korrespondenz im Existentiellen. Auf der einen Seite gilt der Augenblick als Ort der Flüchtigkeit, der Instabilität, des Verschwindens und unablässigen Sichentgleitens; das Leben findet im Jetzt keine Dichte und keinen Halt. Auf der Gegenseite verbinden sich mit der Gegenwart – wie in der ontologischen Vision des Parmenides – Vorstellungen des integralen, erfüllten Seins, der Vollendung und des Mit-sich-Einsseins. Der Begriff der Gegenwärtigkeit schwankt dabei – wie der Gegenbegriff des Abwesenden – zwischen temporaler und räumlicher Bedeutung. Wer wirklich, jetzt ist, ist sichtbar, Aktualsein heißt Sichmanifestieren; wer in der Gegenwart ist, ist sich selbst gegenwärtig. Gegenwart wird zu einer emphatischen, affirmativen Bestimmung des vollendeten Seins und Selbstseins (wie umgekehrt eine Strömung der Metaphysikkritik als Kritik an der Präsenzmetaphysik auftritt). Gegenwärtigkeit steht für ein Ideal des wahrhaften Seins, des Identischseins und Ganzseins.

      Interessant ist nun, dass diese Leitidee nicht nur eine der drei Sphären des dimensionalen Zeitbewusstseins strukturiert. Die Idee der Gegenwärtigkeit bildet desgleichen einen Fluchtpunkt sowohl des Zukunfts- wie des Vergangenheitsbezugs. In beiden Weisen des Hinausgehens über das Jetzt, im Vorausgehen wie im Zurückblicken, fungiert das Ideal des Ganzseins und Sich-selbst-Findens als Richtschnur und treibendes Motiv. Nach Heidegger ist es das Vorlaufen zum Ende, das Sein zum Tode, welches in bevorzugter Weise das Ganzseinkönnen des Daseins ermöglicht. Vom Ende her, angesichts des Endes und im Zurückblenden vom Ende her, sind wir mit dem Ganzen unseres Lebens konfrontiert, uns in der Ganzheit unseres Lebens gegeben. Doch auch im offenen Entwurf, im Wünschen und Projizieren ins Künftige kann die Vorstellung, zu sich zu kommen und sich gegenwärtig zu werden, zum Leitstern werden. Ebenso aber kann die Sehnsucht nach Gegenwart als Triebkraft des Erinnerns wirken. In der Herkunft heimisch zu werden, sich in ältesten Hoffnungen wiederzuerkennen, seine Geschichte zu erkunden und auszubreiten kann vom Bedürfnis getragen sein, nicht nur Früheres aus dem Entschwundensein heraufzuholen, sondern sich selbst im Rückgang zum Vergangenen in seinem Leben präsent zu werden. Das von Proust evozierte Glück ist nicht zuletzt eines der erfüllenden Präsenz.

      Nun hat nicht nur Proust die Fragilität dieses Glücks erkannt, die ungesicherte Mühsal des Erinnerns beschworen. Viel umfassender ist das Leben in der Zeit seit je in seiner Abgründigkeit, seiner Gefährdetheit erfahren und reflektiert worden. Zeit ist nicht nur eine tragende Dimension menschlichen Lebens, sondern gleichzeitig eine existentielle Herausforderung. Die ungelöste Spannung zwischen Gelingen und Misslingen bleibt dem Leben in der Zeit unhintergehbar.

       2.3 Die Herausforderung der Zeit

      Nach allen drei Dimensionen kann das Leben in der Zeit gelingen oder misslingen. Es kann zur erstrebten Fülle und Selbstgegenwart führen – oder leer sein, dem Menschen entgleiten, die Präsenz in Abwesenheit verkehren. Zeit fordert den Menschen heraus, im Denken wie im Leben. Kaum etwas ist in vergleichbarer Mannigfaltigkeit und vielfältigerer Wertung in den kulturellen Zeugnissen der Menschheit, in Dichtung, Sinnsprüchen und Theorien beschrieben und bedacht worden. Für die theoretische Reflexion gilt Zeit spätestens seit dem berühmten Satz des Augustinus als ein Rätsel par excellence; sie ist jedem selbstverständlich und doch von keinem verstanden.7 Für das praktische Leben ist sie Gegenstand des Glücks wie der Not, Freiheit und Zwang, »unser Erzfeind und unser innigster Freund«.8 Zeit gehört zu den Grundbedingungen des Daseins und stellt gleichzeitig ein Problem, eine existentielle Herausforderung für den Menschen dar. Mit ihr zurechtzukommen, in der Zeit glücklich zu werden, versteht sich nicht von selbst. Nicht nur sind Alltagsphänomene wie Zeitdruck und Zeitknappheit in der modernen Gesellschaft allgegenwärtig geworden. Nicht nur tritt das Leiden an der Zeit in psychopathologischen Phänomenen in Erscheinung. Allgemeiner ist gerade in neueren Theorien die Negativität der Zeit, die seit den ältesten Klagen über die Flüchtigkeit des Lebens und die Sterblichkeit des Menschen zu Wort gekommen ist, als grundsätzliches Problem der menschlichen Existenz aufgeworfen worden.

      Im Verhältnis zur Zukunft manifestiert sie sich in der Unfähigkeit, sein Leben zu entwerfen und seine Zukunft zu gestalten. Der Schwund der Kraft, sein Leben zu organisieren und temporal zu strukturieren, der das Lebensgefühl in seiner ganzen Weite affizieren kann, untergräbt hier die elementare Lebenskraft, die uns nach vorne wirft, uns die Initiative ergreifen und tätig sein lässt. Das Versiegen der Kraft, Neues hervorzubringen und Kommendes in die Hand zu nehmen, vertieft sich zur Unfähigkeit, die Zukunft aufzuschließen, ja, sich selbst der Zukunft zu öffnen. Der Mensch steht vor einer versperrten oder einer unbestimmt-leeren Zeit; zuletzt geht er des Zukunftsraums als solchen, der dynamisch-offenen Gerichtetheit der Existenz selbst verlustig. Das von der Existenzphilosophie beschriebene Vorauslaufen des Daseins, das Sichentwerfen in den Raum der Möglichkeiten kann aufgrund der Schwäche des Subjekts, aber auch der Widerständigkeit der Welt erschwert, gegebenenfalls verunmöglicht werden. Die Selbstlähmung des Handelns spiegelt sich in der Implosion der Zeit wider. Das Gewicht des Vergangenen überlagert die Zukunft, hält diese in der Starre des Gewesenen, den Ketten der Wiederholung gefangen.

      In anderer Weise kann die Immobilität und Entzeitlichung die Gegenwart selbst durchdringen. Was idealiter als erfüllte Aktualität, als höchste Verdichtung erstrebt wird, zerfällt zum Stillstand der Zeit, zur toten Leere. Es ist eine Gegenwart ohne kommunikativen Austausch mit dem Gewesenen und dem Kommenden, eine auf sich fixierte und starre, substanzlose Präsenz, weder in sich lebendig noch sich übersteigend in den Fluss des Lebens hinein. Es ist eine Zeit, die nicht vergehen will, die nicht als lebendig-bewegte Zeit erfahren wird. Pascal, Kierkegaard und Heidegger haben die Langeweile als menschliche Grundbefindlichkeit geschildert, als jenen Zustand, in welchem sich die Monotonie des linearen Verlaufs mit der Wesenlosigkeit der Existenz im Vakuum der entseelten Zeit verschränkt. In der Depression wird dieser Zustand als seelisches Leiden erfahren, wobei hier wie beim Zerfall der Zukunft die Frage im Raum steht, wieweit die pathologische Form gegenüber dem normalen Leben ein strukturell Anderes ist oder nur eine graduelle Steigerung verkörpert und auf den Begriff bringt, was der conditio humana als solcher wesensmäßig innewohnt.9

      Nicht zuletzt findet die Blockierung des Zeitlichen im Verhältnis zum Vergangenen statt. Belastend wird sie dort erlebt, wo das Vergangene die Gegenwart in ihrem Bann hält, statt von ihr verflüssigt, kognitiv und praktisch angeeignet zu werden. Die Unfähigkeit zur erkenntnismäßigen Durchdringung und kritischen Verarbeitung, das Versagen der Kraft zur temporalen Synthese und narrativen Strukturierung zeigen sich auch hier als Symptome einer subjektiven Ohnmacht, die ihr Pendant, teils ihren Grund, in der Übermacht und repressiven Verstellung des Vergangenen selbst haben kann. Gerade mit Bezug auf Vergangenheit wird das existentielle Problem der Zeit, die Schwierigkeit, im Vergehen mit sich eins sein zu können, unmittelbar erfahren und vielfältig thematisiert; die Sehnsucht und Aporie des Erinnerns sind ebenso lebensweltliche Motive wie Angelpunkte der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Gedächtniskultur. Jede Befassung mit dem Vergangenen ist von vornherein mit dem Problem des Entzugs ihres Gegenstandes konfrontiert, dessen Unzugänglichkeit nicht nur durch äußere Distanz, Fremdheit oder Komplexität bedingt ist, sondern ebenso der Abwehr, aber auch der Verschließung und Selbstverhüllung geschuldet sein kann. Die Arbeit des Gedächtnisses hat immer auch und in unterschiedlicher Weise mit dessen Grenze, mit dem Nichterinnerbaren und dem Nichterinnernkönnen zu tun.

      Nach

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