Sein Leben schreiben. Emil Angehrn
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Komplementär zur numerischen steht die qualitative Identität zur Diskussion. Sie steht für die Gleichheit verschiedener Individuen derselben Art beziehungsweise die Identifikation von etwas ›als etwas‹ (als Exemplar einer Spezies, Träger einer Berufsrolle). Nicht wer (von allen) wir sind, sondern was bzw. wie wir durch die Geschichte geworden sind, als was wir uns erinnernd erkennen, steht in Frage. Erinnerung gilt hier, jenseits der Individualität und der Selbigkeit über die Zeit, dem inhaltlichen Reichtum dessen, wozu Menschen im Laufe ihres Lebens geworden sind. Das Interesse des Erinnerns gilt nicht der abstrakten Vergewisserung des Unterschiedenseins von anderen und Mit-sich-Identischseins, sondern demjenigen, was wir im Durchlaufen unserer Geschichte erfahren, getan und erlitten haben, was wir als Resultat dieses Prozesses geworden sind. Es ist das Interesse an einer materialen Aneignung der Geschichte, die unter ganz verschiedenen Kriterien wahrgenommen und beurteilt werden kann: im Blick auf den Wert der Erlebnisse und Taten, auf die Verknüpfung der Episoden unseres Werdens, die Gestalt oder Brüchigkeit des Lebenslaufs, die Entwicklung und Gerichtetheit, Konsistenz oder Widersprüchlichkeit der Geschichte. Im Spiel ist dabei sowohl die inhaltliche Seite des Gedächtnisses, das zur Grundlage historischer Selbsterkenntnis wird, wie der Formaspekt der erinnerten Geschichte, die zwischen Schlüssigkeit und Zerstreuung, Ganzheit und Fragmentierung oszillieren kann. Es ist eine offene Frage, wieweit wir zum einen uns mit den Phasen unserer Geschichte identifizieren können, wieweit wir vergangene Handlungen und Widerfahrnisse mit unseren Wünschen und Werten, mit unserem Selbstbild in Übereinstimmung bringen, sie als eigene anerkennen und als Teil unseres Selbst integrieren können, zum anderen aber auch, in welcher Weise die Geschichte einen Zusammenhang bildet und zur Grundlage eines gelingenden Selbstverhältnisses im Ganzen des Lebens wird. Die Rede von geschichtlicher Identität bezieht sich zumeist auf diese ›qualitative‹ Seite, auf die Frage, wie jemand durch seine Geschichte geprägt worden ist, von ihr seine Eigenart, seinen Charakter erhalten hat.
Bei alledem drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis zwischen der Geschichte und dem Subjekt, das durch sie bestimmt wird, näher zu fassen ist. Gibt es eine Identität des Subjekts, welche der Geschichte voraus- und zugrundeliegt, oder bildet erst der Sinnzusammenhang der erzählten Geschichte den Rückhalt und Kern der personalen Identität? Lassen sich die Einheit der Geschichte und die Identität dessen, von dem die Geschichte handelt, auseinander halten? Wenn diese Trennung bei Artefakten und historisch-kulturellen Gebilden (romantische Kunst, deutsche Nation, literarische Figuren) vielfach obsolet scheint, so erweist sie sich bei Personen und Kollektiven als uneindeutig und durchaus klärungsbedürftig. Sie verweist auf die grundsätzliche Frage, in welcher Weise überhaupt eine Geschichte einem Geschichtsträger ›zukommt‹, inwiefern sie ›seine‹ Geschichte ist. Wenn wir idealtypisch bei der Person als Geschichts-›Subjekt‹ ansetzen, so ist ihr die Geschichte als dasjenige zugehörig, das von ihr bewirkt, von ihr erlitten, von ihr vergegenwärtigt wird. Der Geschichte vorausliegend ist das Subjekt hier zunächst insofern, als es mit einem raum-zeitlich bestimmten, körperlichen Substrat verbunden ist, das nicht als solches durch die Wendungen der Geschichte generiert wird. Offen hingegen ist, in welcher Weise die Identität des Subjekts, sofern sie nicht in der numerischen Identität des Körpers aufgeht, sondern das konkrete Unterschieden- und Sosein der Person meint, mit der Gestalt und der Einheit einer Geschichte verflochten ist. Sozialpsychologische wie sprach- und erzähltheoretische Argumente sprechen für eine starke Interferenz beider Seiten, die Ricœur auf die Formel bringt, dass »die Identität der Geschichte die Identität der Person ausmacht«.19
Allerdings ist es möglich, diesen Zusammenhang nach beiden darin enthaltenen Schritten kritisch zur Diskussion zu stellen: im Blick auf die Verflechtung zwischen Selbstsein und Lebensgeschichte wie auf den Konnex von faktischem Lebenslauf und erzählter bzw. erzählbarer Geschichte.20 Es steht außer Frage, dass eine Phänomenologie des Selbst auch Dimensionen des Selbstverhältnisses zu erschließen hat, die nicht auf die Lebensganzheit ausgespannt sind und ihren Impuls nicht aus der Kraft der Erinnerung beziehen. Und ebenso kann eine Analyse der existentiellen Zeitlichkeit und Geschichtsaneignung auch unabhängig von der bestimmten Form der narrativen Lebensbeschreibung durchgeführt werden. Die Einheit des Lebenslaufs geht nicht auf in der erzählten Geschichte. Entsprechend nimmt die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang nicht von einer Philosophie des Selbst und liegt ihr demonstrandum nicht in der strengen Hinführung vom Selbst über die Erinnerung zur Lebenserzählung. Vielmehr setzt sie bei deren Verschränkung, bei der Sehnsucht nach Erinnerung und dem Wunsch der Lebensbeschreibung an, um deren interne Motivkonstellation aufzuhellen. Gleichwohl gehört es zur leitenden Intuition und zum Duktus der vorliegenden Untersuchung, die nicht-kontingente Verbindung dieser Schichten und Motive des Selbstseins aufzuzeigen. Sie soll in der konkreten Erkundung dessen, was Erinnerung ist und was sie leistet, schrittweise hervortreten.
3.4 Räume und Formen der Erinnerung
(a) Objektive und subjektive Erinnerung
Bevor wir die Stadien der ins Auge gefassten schreibenden Selbsteinholung des Lebens näher ins Auge fassen, seien vorausgreifend grundlegende Dimensionen benannt, in denen Erinnerung sich vollzieht. Eine fundamentale Unterscheidung, welche die Gedächtnistheorien durchzieht, ist die zwischen subjektiven und objektiven Anteilen im Erinnerungsprozess – zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, Gedächtnisspeicher und Erinnerungsakt, Sedimentierung von Spuren und Wiedererkenntnis. In der deutschen Sprache lässt sich die Polarität mit der Distinktion von Gedächtnis und Erinnerung assoziieren, wobei ›Gedächtnis‹ zum Teil eher im Sinne des Archivs, des Raums und Trägersubstrats der Reminiszenz, teils eher im Sinne der vorhandenen Quellen und objektivierten Spuren verstanden wird. In dieser Bedeutung figuriert die Unterscheidung in einer der ältesten Gedächtnistheorien, in der aristotelischen Schrift De memoria et reminiscentia, als Unterscheidung zwischen dem Niederschlag des vergangenen Erlebens in einem Erinnerungsbild, das uns passiv gegenwärtig ist, und dem aktiven Vollzug des Wiedererinnerns als erneuerter Wahrnehmung dessen, wovon wir in unserem Gedächtnis das Zeugnis bewahren.21 Mit der Relation von mneme und anamnesis verbindet Aristoteles die Frage, die sich auch außerhalb des erinnerungspsychologischen Kontextes stellt, wie nämlich eine anwesende Affektion für ein Abwesendes, ein Gegenwärtiges für ein Vergangenes stehen kann. Aristoteles’ Antwort führt über den Bild-Charakter der uns innewohnenden Vorstellung; in einem weiteren Horizont verbindet Paul Ricœur damit den Rätselcharakter der Spur, die zugleich als Wirkung und Zeichen (»un effet signe«)22 auf ihren Ursprung bezogen ist. Indem er den Begriff der Spur, der bei verschiedenen Autoren – Husserl, Freud, Derrida, Lévinas – einen zentralen Stellenwert besitzt, nach den Haupttypen der kortikalen, psychischen und dokumentarischen Spur diversifiziert und in den Räumen der Neurologie, der Psychologie und der Geschichte verortet, erweitert er den objektiven Charakter des Erinnerns