Sein Leben schreiben. Emil Angehrn

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Sein Leben schreiben - Emil Angehrn

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materielle, gegenständliche Seite des Gedächtnisses zur Geltung gebracht. Verwiesen sei auf die von Sigmund Freud verwendete Metaphorik der Archäologie, die ihm als Bild dafür dient, »dass im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, dass alles irgendwie erhalten bleibt, und unter geeigneten Umständen […] wieder zum Vorschein gebracht werden kann«, ähnlich wie die archäologische Grabung in der verborgenen Tiefe einer Stadt deren Vorstadien, Wandlungen, Konstruktionen und Zerstörungen sichtbar macht.24 Das konnotationsreiche Bild des Verschüttens, Verdeckens und Aufbewahrens im Erdreich, des Ausgrabens und Rekonstruierens lässt sich in Kontexten des Psychischen, Sozialen und Geschichtlichen mit Assoziationen des Zertrümmerns und Zerfallens, aber auch des Zurechtrückens und Refigurierens in die Erinnerungsdynamik einzeichnen. Walter Benjamin hat in seiner Berliner Chronik, in welcher er Erinnerungsbruchstücke aus den Kindheits- und Jugendjahren versammelt, die Metapher des Ausgrabens aus dem Erdreich übernommen und in eine umfassendere topographische Schematik eingefügt, als deren Hintergrund man auf die klassische, in die Antike zurückreichende topographische Methode der ars memoriae verweisen kann. Erinnerung macht sich nach Benjamin fest an Orten und Räumen, sie beleuchtet »weniger die Bilder der Menschen als die der Schauplätze«.25 Anstelle der Zeit- und Ablauffiguren, welche den Fluss des Erinnerns modellieren, dominieren Raster der Räumlichkeit und Äußerlichkeit, in denen das Gedächtnis seine Bezugnahme und Formbildung verankert. In Überlagerung mit der Idee des Erdreichs assoziiert das topographische Gedächtnis gleichzeitig »die Verbindung mit den Toten dieses Bodens«, die Kultur des Totengedenkens.26 Nach anderer Hinsicht verknüpft es sich mit Aspekten sinnlicher Materialität, die den Erlebnissen und Begegnungen ihre Färbung geben und sie im Speicher des Gedächtnisses deponieren (wie die »Mauern und Quais, der Asphalt, die Sammlungen und der Schutt, die Gatter und Squares« zum Erkennungszeichen von Paris werden). Nicht die Kette von Ereignissen, sondern die Konstellierung von Objekten, das Versunkensein in eine Dingwelt fundiert dann den Raum gelebten Erinnerns.27 Dabei geht es, wie Benjamin in einer Reflexion über »Ausgraben und Erinnern« festhält, nicht einfach um das punktuelle Fixieren der Dinge und Orte, sondern um die »sorgsamste Durchforschung« der Schichten, in denen die Residuen und Dinge abgelagert sind, die Nachzeichnung des Umgrabens und Findens, das sich der verschütteten Vergangenheit nähert, um sie zum Sprechen zu bringen und in Bildern auferstehen zu lassen. Wahrhafte Erinnerung gilt nicht nur dem Fundobjekt, sondern gleichermaßen dem Grabungsbericht und »dem, der sich erinnert«.28

      Räumlichkeit ist Paradigma der Äußerlichkeit, und dies in zweifacher Hinsicht, als das in sich und gegenseitig Äußerliche, die Dimension des partes extra partes, und als das dem Subjekt gegenüber Andere und Äußere. Die Räumlichkeit und Materialität des Erinnerns steht für die Dimension der Zerstreuung und Zersplitterung wie für das dem Subjekt Fremde und Unerkannte, das Abwesende und Undurchdringliche; sie ist der Raum des Bruchstückhaften, der Splitter und Trümmer, die vergessen und bezugslos nebeneinander liegengeblieben sind, doch unversehens aus ihrer Bedeutungslosigkeit auftauchen, Erinnerungen heraufrufen und zu Knotenpunkten einer lesbaren Geschichte mutieren können. Dekonstruktion hat die Figuren der Verräumlichung, der Spaltung und Abdrift generell als Gegenkonzepte zur ganzheitlichen Kontinuität des Sinns stark gemacht, die Medialität und Äußerlichkeit anstelle der Innerlichkeit subjektiven Meinens und Nachvollziehens als Raum der Bedeutung expliziert. Sinngenese und Verstehen transzendieren den Binnenraum des Selbstbezugs, und dieses Überschreiten gewinnt im Feld von Gedächtnis und Erinnerung ein besonderes Profil und Gewicht.

      Die Dialektik von subjektiver und objektiver Verortung tangiert die Herkunft wie den Akt der Reminiszenz. Es gibt Bilder, die auftauchen, Dinge, Stimmen und Atmosphären, die an etwas erinnern; weithin hat Erinnerung mehr mit spontaner Assoziation als einem intendierten Zurückholen aus der Zone des Abwesenden zu tun. Auch thematisch geht Erinnern nicht im Sicherinnern auf, sein Modell ist nur zum Teil das individuelle, bewusste Zurückdenken an eigenes Tun und selbst Erlebtes. Entgegen der psychologisierenden Orientierung am Wieder-Erleben früherer Widerfahrnisse und Handlungen – dem »landläufigen Erinnerungsbegriff«29 – findet Erinnerung ihr wahres Potential, ihre wirkliche Tiefe jenseits des Rückbezugs auf ein früheres, subjektives Erleben; ebensowenig ist sie – gegen eine von vielen geteilte Meinung30 – auf das Erinnern des Individuums zu beschränken. Nicht zuletzt ist die Schwierigkeit des Erinnerns, der Widerstand gegen das Wiederaufleben verdrängter Ereignisse gerade im Falle des kollektiven Gedächtnisses prägnant fassbar.31 Auch das dem Bewusstsein Entzogene, doch dem Unbewussten Eingeschriebene, das als Residuum im nichtpsychologischen Gedächtnis der Kultur Dokumentierte, im kollektiven Sein und Verhalten Verkörperte konstituiert das Substrat, aus welchem Erinnerungsarbeit ihre Ressourcen, ihr Material und ihren Impuls bezieht. Erinnerung ist nicht nur ein Insichgehen der Person, sondern ein Teilhaben an der Geschichte und dem gemeinsamen Fundus, aus denen heraus Subjekte ihre Identität gewinnen. In vielfältiger Auseinandersetzung mit der Objektivität, Äußerlichkeit und Andersheit ist Erinnerung nicht ein Wiederholen und Wiedererleben, sondern eine Aneignung von etwas, das einem noch gar nicht zu eigen war. Es gehört zur Macht und Größe des Erinnerns, sich in dem erkennen, aus dem finden zu können, was über das Eigene hinausgeht.

       (b) Formen der Erinnerung

      Neben den Räumen interessieren die Gestalten und Prozessformen des Erinnerns. Psychologische, neurologische und kulturwissenschaftliche Analysen haben dazu unterschiedliche Differenzierungen vorgenommen und vielfältigste Modelle erarbeitet; sie können hier nicht unser Thema sein. Als Grundlage für das Folgende seien nur zwei grundlegende Unterscheidungen festgehalten, die das lebensweltliche Feld der Erinnerung strukturieren.

      Die erste ist die Differenz zwischen spontan aufkommenden und intentional herbeigeführten Erinnerungen. Es gibt auf der einen Seite das Aufblitzen von Erinnerungsbildern, die durch äußere Anlässe provoziert, durch Stimmungen und Dispositionen in uns hervorgerufen werden, durch unbekannte Ursachen aus dem Dunkel emergieren. Auf der Gegenseite gibt es das bewusste Bemühen um Erinnerung, von mnemotechnischen Memorierungsübungen bis zur lebensgeschichtlichen Erinnerungsarbeit und zu komplexen historischen Forschungen. Beides gehört zu der Art und Weise, wie Vergangenheit im Leben der Menschen anwesend wird, wie Vergangenes in das Heute einbricht, wie es in der Rückschau aufgesucht und gefunden wird. Beide Wege überkreuzen und überlagern sich, die methodische Arbeit des Gedächtnisses kann durch das plötzliche Hervortreten von Bildern vergangener Zeiten unterbrochen werden, sich in Wechselwirkung mit diesen vollziehen, in ihrem Dienst stehen und durch sie vorangebracht werden.

      Die andere Unterscheidung ist die von Edmund Husserl exemplarisch herausgearbeitete Differenz zwischen dem Nachhall der implizit noch anwesenden, stufenweise sich abschwächenden Eindrücke des Vergangenen und der gezielten Wiederherstellung und bewusstseinsmäßigen Erneuerung früherer Ereignisse und Erfahrungen: zwischen ›Retention‹ und ›Reproduktion‹, ›primärer‹ und ›sekundärer‹ Erinnerung, zwischen der sich sukzessiv entziehenden Gegenwärtigkeit des Einst und seiner reflexiven Ver-Gegenwärtigung.32 Husserl expliziert das Spezifische der retentionalen Erinnerung am Beispiel des Melodiehörens, wo das Nachklingen und Noch-Präsent-Haben erklungener Töne konstitutiv zur Wahrnehmung einer Melodieform dazugehört; das Beispiel lässt sich auf verschiedene Wahrnehmungs- und Verstehensvollzüge – das Erfassen einer Rede, einer Bewegung, einer Filmsequenz – übertragen, die zeitlich verfasst sind und nicht in der Aktualität des Hier und Jetzt aufgehen können. Husserls klassische Analyse bezieht sich auf den Nahhorizont, innerhalb dessen die Konstitution eines konkreten Wahrnehmungsgegenstandes nicht ohne den Schatten des Nichtmehr-Gegenwärtigen, des Soeben-Wahrgenommenen – und korrelativ der antizipierten Fortführung des Erlebens – zustandekommt. Indes könnte man die Struktur auch zeitlich ausweiten und sie auf die nicht-thematische Anwesenheit des Vergangenen im größeren Zeitradius anwenden, auf die Art und Weise, wie ein erfreuliches oder trauriges Erlebnis von heute früh auf mein jetziges Empfinden und Tun abfärbt, wie ein gestriger Misserfolg noch unbewältigt und psychisch anwesend ist, wie meine Lebensgeschichte, letztlich die umfassendere Geschichte, der ich zugehöre, mein Wollen und Handeln prägen, in mein Selbstgefühl und mein Weltverhältnis eingehen. Dieser impliziten, nicht-aktualisierten Präsenz

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