Sein Leben schreiben. Emil Angehrn

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des Alters das Leben in der Zeit gelingen kann. Zunächst scheinen im Maße der verschärften Zeitnot die Bedingungen eines gelingenden Selbstseins in zweierlei Hinsicht erschwert. Auf der einen Seite verliert die Selbsteinholung, um deren Möglichkeit sich schon Proust angesichts der entschwindenden Zeit geängstigt hatte, ihren Raum und ihr lebenszeitliches Fundament. Das Hinausschieben des Alters, Verdrängen des Todes, welches die natürliche Haltung des tätigen Lebens prägt, setzt sich im Fernhalten der Lebensreflexion ins Alter hinein fort. Auf der anderen Seite verbindet sich das Altern mit der Erosion jener Lebenskraft, die zugleich mit der Sinngebung zur temporalen Strukturierung der Existenz befähigt. Es ist der Verlust der lebensweltlichen Quellen, deren der Mensch zur narrativen Synthetisierung und inhaltlichen Gestaltung seines Welt- und Selbstbezugs, zur Aneignung seiner Lebenszeit bedarf. So geht er der Zeit auf zwei Ebenen zugleich verlustig, auf der Ebene der sich real entziehenden, sich verflüchtigenden Zeit ebenso wie seiner eigenen Fähigkeit, die konkrete Ordnung der Lebenszeit zu stiften, Kommendes aufgehen zu lassen und Vergangenes zu vergegenwärtigen. Das Junktim zwischen der Kraft des Bewahrens und jener des Gestaltens, das die Erinnerungsarbeit durchzieht, bestätigt sich in ihrem Absterben. Zugleich mit der Zeit schwindet das Vermögen der temporalen und sinnhaften Strukturierung. In dieser Überlagerung verhärtet sich das Schwinden der Zeit, wird es zum unwiederbringlichen Verlust, strahlt es zuletzt auf das Leben als ganzes aus, welches brüchig, leer wird, dem Menschen nicht mehr in lebendiger Gegenwart zueigen ist.

      Der sich vertiefenden Negativität des Zeitlichen antwortet die Gegenutopie einer wiedergefundenen Zeit, welche nicht nur vergangene Zeiten, sondern die innere Macht der Lebensform wiedergewinnen will. Dem Entschwinden der narrativen Kraft steht der Wunsch eines weitergeführten, zur Vollendung geführten Erzählens, eines Sicherzählens bis ans Ende gegenüber.19 Im Negativen wie im Positiven verschränkt sich die Erfahrung des Alters mit der Herausforderung der Zeit und dem Interesse des Erzählens und Sich-Erzählens. In den Blick kommen Leitbilder, die sich jener Negativität der Zeit wie deren Radikalisierung im Alter entgegenstellen: Bilder des erfüllten, befriedeten Alters wie des Ganzseinkönnens und Zusichkommens in der Zeit. Ihren umfassenden Horizont bildet die Erinnerung.

       II.

Die Kunst der Erinnerung

       3. Die Aneignung des Vergangenen

       3.1 Der Widerstand gegen das Vergessen

      Erinnerung ist die Gegenkraft zur Ohnmacht des Lebens. Sie widersetzt sich dem Verrinnen der Zeit, sie hält Vergangenes fest und befestigt den Zusammenhalt des Gewesenen mit dem Jetzt. Ihre erste Tat ist das Bewahren, ihr tiefster Impuls der Widerstand gegen das Vergehen. »Nichts ist vergessen und niemand ist vergessen«, so lautet das erste Bekenntnis des historischen Gedächtnisses – gegen das Zunichtewerden des Vergänglichen, sein Unsichtbar- und Unwirklichwerden, sein Entschwinden aus der Welt der Menschen. Der Satz – eine Zeile der russischen Lyrikerin Olga Bergholz – steht für ein Versprechen und eine Forderung angesichts des Abgrunds der Zerstörung und des gewaltsamen Verstummens1 – unter anderen Umständen auch für eine Beschwörung angesichts des verdrängten Gedächtnisses.2 Auch losgelöst von solchen Bezügen kann er als Leitidee der Historie dienen, deren Grundhaltung, vorgängig zu allen besonderen Zwecken des Gedenkens, der Pietät des Bewahrens3 entstammt und deren treibendes Motiv durch den Wunsch, dass Vergangenes nicht auf immer vergangen sei, bestimmt ist. Als idealen Fluchtpunkt solchen Erinnerns hat man die Unvergänglichkeit alles Vergänglichen4 bezeichnet. Menschliches Leben strebt danach, Leben zu erhalten und weiterzuführen. Sein ursprüngliches Wollen gilt dem Leben, seine ursprüngliche Abwehr der Erosion, die der inneren Schwäche des Lebens, aber auch der auflösenden Macht der Zeit geschuldet ist. Es geht in dieser Abwehr nicht nur um das simple Vorübersein, um den einfachen temporalen Sachverhalt, dass etwas, was einst war, jetzt nicht mehr ist. Es geht zugleich um den substantielleren Verlust, dass etwas, das einst wirklich und Teil des Lebens war, sich in Nichts aufgelöst hat, dass etwas, um das es den Menschen ging und das dem Leben wichtig war, seine Bedeutung verloren hat, nicht mehr die Gegenwart prägt und eine Zukunft eröffnet; es geht darum, dass ein vergangenes Erlebnis, eine vergangene Tat nichtig geworden ist. In gewisser Weise ist das Zunichtewerden durch den Gang der Zeit nicht nur ein späteres Nicht-mehr-Sein, sondern wirkt es zurück, löst es das Vergangene selbst in seinem Sinn und Gewesensein auf. Dass etwas umsonst war, dass es gar nicht wirklich war, ist die tiefste Angst, die Urangst im Erleben der Vergänglichkeit aller Dinge. Weit davor entfernt, nur unserem Bewusstsein zu entschwinden, vergessen zu werden und auf immer vergessen zu sein, droht Vergangenes an ihm selbst dem Nichtsein, der Nichtigkeit anheimzufallen. »Vergänglichkeit und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern des Vergessens« – so umschreibt Christa Wolf den Horror vor dem Vergessen und den unaufhaltsamen Verlust, gegen den sie anschreibt.5 Die Kultur des Gedächtnisses ist kein bloßes Dispositiv im Raster der Temporalität, keine bloße Gegenbewegung zur Urprozessualität alles Seienden. Sie ist ein ursprünglicher Protest gegen das Vergehen und das Bemühen um eine Rettung, die dem Leben, der Welt, dem Selbst zugute kommen will.

      Der erste Reflex jenes Horrors vor dem Vergessen, jener Urangst vor dem Entschwinden ist das Festhalten. Alles aufschreiben, damit es nicht verloren geht, damit nichts ohne Zeugnis und ohne Spuren bleibt, so lautet das erste Gebot des Gedächtnisses. Wenn die Pflicht des Nichtvergessens und das fundamentale Interesse des Erinnerns im kulturellen Diskurs in vielfältiger Weise mit den Inhalten des Gedächtnisses, der Unerledigtheit dessen, was nicht preisgegeben werden darf, verschränkt wird6, so gibt es vorgängig dazu den elementaren Widerstand gegen das Vergehen und das Vergessen als solches. Dennoch ist das Gebot des Festhaltens und Aufschreibens erst eine abstrakte Anweisung, ein leerer Reflex, der nur unzulänglich auf die Frage nach dem Wozu der Erinnerung antwortet. Alles niederschreiben, alles registrieren ist kein Ideal, kein inneres Ziel des historischen Sinns. Es entspräche in seiner Formalität dem, was Arthur C. Danto als Zerrbild einer ›Idealen Chronik‹, einer simultanen und integralen Registrierung von allem, was geschieht, gezeichnet hat7 – das Gedächtnis als eine Art universaler Festplatte, auf der alles Reale protokolliert und als Dokument niedergelegt wäre. Es wäre eine leere Verdoppelung, die offenkundig nicht nur der Praxis der Historie, sondern auch dem lebendigen Interesse, das wir am Erinnern nehmen, fremd ist. Zur Historie gehört nicht nur die konstitutive Selektivität, die aus der Vielfalt der Daten eine bestimmte Geschichte konfiguriert, wie schon alles Wahrnehmen und Sprechen unhintergehbar perspektivisch ist. Zum Erinnern gehört darüber hinaus der konstitutive Bezug zum Subjekt, für welches die Vergegenwärtigung des Vergangenen ihr bestimmtes Profil und ihre lebensweltliche Relevanz gewinnt.

      Zum Tragen kommt die wesensmäßige Reflexivität von Geschichte und Gedächtnis, als Vergangenheitsbezug von einem, um dessen Vergangenheit – und um das es im Vergangenheitsbezug – geht. Idealtypisch ist dies die Erinnerung von Subjekten, die sich auf ihre Geschichte besinnen, ihren Lebenweg abschreiten und nachzeichnen; analog wie beim Individuum findet dieser Rückbezug beim Kollektiv statt. Zwar ist die selbstbezügliche Perspektive nicht alternativelos und noch weniger in sich geschlossen. Es gibt gute Gründe, auch in der Geschichte von Subjekten gerade die objektiven Spuren und gegenständlichen Sedimentierungen als Faktoren des Werdegangs und der historischen Prägung ernst zu nehmen und herauszuarbeiten. Nicht umsonst hat Sigmund Freud die Archäologie als Leitmetapher für die Sondierung der Tiefenschichten und Entwicklungsformen der Seele gewählt, und Walter Benjamin hat im gleichen Geiste das Erdreich, »in dem die alten Städte verschüttet liegen«, als Bild für das in der Sprache aufbewahrte Gedächtnis verwendet.8 In historisch-vergangenheitsbezogener Erkundung ist die Integration der Außenperspektive, das Sichabarbeiten an dem, was nicht vom Subjekt kommt und ihm nur partiell zugänglich ist, grundlegend für die Erschließung des Selbst. Gleichwohl bleibt auch die objektivierend-distanzierende Betrachtung an das Selbstverhältnis zurückgebunden, bildet sie einen – wesentlichen – Umweg auf dem Wege der Selbstverständigung.9 Erinnerung geht nicht im Raster der retrospektiven Rekonstruktion objektiver Fakten und Prozesse auf. Auch die Geschichts-

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