Sein Leben schreiben. Emil Angehrn
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Aufs Ganze gesehen scheint es sinnvoll, im vielgestaltigen Bereich temporaler Organisation drei Kristallisationspunkte herauszuheben. Ein erster bildet sich um den Gegensatz von Sammlung und Zerstreuung. Dass wir uns im Fluss der Zeit abhanden kommen, uns im Vergangenen nicht finden, uns in der Leere und Diffusion der Gegenwart verlieren, in der dunklen Zukunft nicht erkennen, sind akut erlebte Bedrohungen des Selbst in der Zeit. Dagegen verlangt das Leben, das im Zeitlichen zu sich kommen will, die innere Sammlung, welche den wechselseitigen Zusammenhalt der Erlebnisse und Prozesse und deren Einswerden mit dem Selbst begründet. Der zweite Kern des Zeitlichen liegt im Widerstreit von Vergehen und Bewahren. Darin artikuliert sich die Urerfahrung der Temporalität. Menschen sind mit dem Vergehen aller Dinge konfrontiert und der Vergängnis ihrer selbst ausgesetzt. Die radikalste Drohung des Selbstverlusts liegt in der Sterblichkeit; die erste Gegenwehr gegen die Not der Zeit liegt im Festhalten des Gewesenen. Das Ideal der erfüllten Präsenz behauptet sich als erstes gegen die Auflösung aller Dinge, gegen ihr Entgleiten ins Nicht-mehr-Sein. Dieser Widerstand überlagert sich schließlich mit dem dritten Kristallisationspunkt des Zeitlichen, der Dynamik von Gestaltung und Entformung. Das Festhalten des Zeitlichen ist kein abstraktes Anhalten und Fixieren, sondern ein strukturierendes Gestalten. Die Verwandlung von Zeit in Sinn, die exemplarisch in der narrativen Organisation geleistet wird, verleiht der verlaufenden Zeit die Konsistenz, die sie erinnerungsfähig macht.
So konvergieren die drei Fluchtlinien in einem gemeinsamen Fokus, die vereinigende Sammlung, das bewahrende Festhalten, die gestaltende Strukturierung der Zeit. Sie bilden drei Knotenpunkte der Erinnerung, die als ganze eine tätige Aneignung der Zeit und ein Sichfinden des Menschen in der Zeit realisiert. Wenn Hegel die »Ohnmacht des Lebens« darin sieht, dass in ihm »was anfängt und was Resultat ist, auseinanderfallen«, so ist es erst die Erinnerung, die über diese Unzulänglichkeit des bloß Lebendigen hinauskommt und die Zerstreuung der Zeit überwindet, dem Menschen ein strukturiertes Leben in der Zeit ermöglicht.10 Es ist eine zweifache Kraft, die in dieser Stabilisierung zusammenwirkt, die Kraft des erinnernden Festhaltens gegen den Sog des Vergehens und die Kraft der – temporalen, narrativen, sinnhaften – Strukturierung des Lebens, in welchem der Mensch sich findet und bei sich sein kann. Erst kraft der Formgebung wird Erinnerung zur Potenz der Bewahrung (wie nach Hegel erst die sittliche Schöpfung dem »Verschlingen der Zeit« ein Ziel und Ende gesetzt hat11). In gestaltender Erinnerung setzt sich der Mensch mit der ursprünglichen Herrschaft der Zeit auseinander, mit dem Zerfallen und Vergehen der Welt und seiner selbst. In zugespitzter Weise findet die Erfahrung dieser Herrschaft in einer besonderen Phase des Lebens statt, in der Begegnung mit dem Alter, dem Sterben, dem Tod. Auf sie ist ein Blick zu werfen, bevor die Gegenmacht der Memoria zur Sprache kommt.
2.4 Alter und Sein zum Tode
Alle Probleme des Umgangs mit der Zeit werden im Alter verschärft erfahren. Man könnte das Alter zu den von Karl Jaspers besprochenen Grenzsituationen zählen, in denen die Grundverfassung des menschlichen Daseins exemplarisch hervortritt.12 Für das Alter betrifft dies das Schwinden der Zeit ebenso wie die Herausforderung, sein Leben zu gestalten und sich darin gegenwärtig zu werden, eine Herausforderung, die mit voranschreitender Lebenszeit dringlicher und schwieriger zugleich wird. Entsprechend kommt dem Akt des Erinnerns, der sich dieser Herausforderung stellt, gesteigerte Relevanz zu. Es ist zu verdeutlichen, worin diese Verschärfung besteht und was sie für das Problem der Erinnerung bedeutet.
Verschärft ist als erstes das Vergehen der Zeit; dies durch den zweifachen Umstand, dass immer weniger Lebenszeit übrig bleibt und dass das Verrinnen der Zeit immer unaufhaltsamer, endgültiger wird. Ja, vielen scheint die Zeit immer schneller vorüberzugehen, nicht wegen der Annäherung an das bevorstehende Ende, sondern wegen der schwindenden Lebensdynamik, der zunehmenden Monotonie des Verlaufs. In eigenartiger Metamorphose wandelt sich die Beschleunigung des potenzierten Tätigseins in den Sog des Leerwerdens und Entgleitens. Einhergehend mit dem Verlust der Lebenskraft scheint der Zeitmangel, das Bewusstsein der begrenzten Frist akuter, es fehlt mit der Initiative auch die Zeit für eine Gestaltung der Zukunft. Immer mehr Pläne müssen unerfüllt bleiben, am Ende droht, wie Proust befürchtete, auch die Zeit zum Lebensrückblick dem Menschen zu entgleiten. Der Wettlauf mit der Zeit tangiert nicht nur inhaltliche Lebensprojekte, sondern ebenso die reflexive Bemühung um ein Zurechtkommen mit seiner Lebenszeit, die Verfügbarkeit von Sinnressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten. Parallel zum realen Entschwinden verschärft sich das Bewusstsein der sich entziehenden Zeit; das Leiden entspringt der existentiellen Zeitnot wie ihrem lastenden Gewahrwerden. Die Verknappung der Zeit überlagert sich mit ihrer Unumkehrbarkeit, der Endgültigkeit des Lebensverlaufs, die ein Neubeginnen, eine korrigierende Wiederholung untergräbt. Mit dem Alter, so Thomas Rentsch, »radikalisiert sich die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens«, intensiviert sich die Erfahrung der Endlichkeit, die nicht nur die Begrenztheit der verbleibenden Zeit und Lebenskraft bedeutet, sondern auch die zunehmende Unabänderlichkeit, die Unaufschiebbarkeit der gesetzten Frist und Endgültigkeit der geronnenen Lebensgestalt.13 Das Bewusstsein der nicht-realisierten Vorhaben verbindet sich mit den unterlassenen Möglichkeiten und verpassten Chancen in einer Schließung der Zukunft, welche der Gegenwart ihr Lebenspotential entzieht.
In solcher Wahrnehmung treten allgemeine Züge der Zeitlichkeit des Lebens hervor, die erst der alternde Mensch in ihrer Stringenz erfährt. Erst ihm werden die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen, die Endlichkeit und Irreversibilität der Zeit zum unabweisbaren Teil des eigenen Lebensvollzugs, wie generell erst der alternde Mensch das Problem des Alters, auch das des Todes, in seiner existentiellen Tragweite erfasst. Erst die »grausame Entdeckung« des eigenen Alterns, so Proust, macht deutlich, dass das Alter »von allen Wirklichkeiten vielleicht diejenige ist, von der wir im Leben am längsten eine rein abstrakte Vorstellung haben.«14 Aufdringlich wird dieses Bewusstsein im Erleben des körperlichen Verfalls, aber ebenso in der Dissoziation von einer Welt, die zunehmend nicht mehr die eigene ist. In eindringlichen Passagen hat Jean Améry Linien dieser Erfahrung ausgezogen, Phänomene der sozialen Vereinsamung ebenso wie des kulturellen Alterns beschrieben, des Nicht-mehr-Verstehens von Techniken und Kommunikationsformen, auf welche sich einzulassen der alte Mensch, ohne Hoffnung auf wirkliche Partizipation, gleichwohl genötigt ist. Es sind Erfahrungen der Emigration aus einer Welt, die nicht mehr die eigene sein wird (wie selbst die respektvollen jungen Zuhörer dem gealterten Sartre »seine letzten Lebensjahre rauben – durch die bloße Tatsache ihres Jungseins und ihres Hinausschreitens in eine Welt, die ihnen und nur ihnen gehört«).15 Ausgeschlossen aus der Welt, vorausgreifend von der Gesellschaft verabschiedet wird »nur, was die Zeichen des Nichts schon auf der Stirn trägt.«16 Der Entzug der Zukunft ist Kehrseite des inneren Verlusts, den das Alter körperlich und seelisch austrägt. Darin überlagert sich das Schwinden der Zeit mit dem Nahen des Todes, jener schlechthinnigen Negativität, die in der Logik des Lebens keinen Ort zu haben scheint und sich der verstehenden Assimilation widersetzt.17 Es ist das Gewahrwerden des unwiderbringlichen Verlusts, das Stehen vor dem Nichts und Verlieren seiner Welt und der geliebten Menschen, das auch vom Todkranken und Sterbenden als Erschütterung, als tiefe Angst und unüberwindlicher Schmerz erlebt werden kann.18 In der Konfrontation mit ihm wie mit dem Erleben (und den äußeren Symptomen) des Alterns ist der Mensch zweifach herausgefordert, sowohl im Bemühen um Sinn wie im praktischen Verhalten: zwischen sinnhafter Integration und Entfremdung, bejahender Anerkennung und Revolte. Im Alter sich selbst zu sein verlangt den diffizilen Ausgleich zwischen Würde, Endlichkeit und Lebenswillen.
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