Sein Leben schreiben. Emil Angehrn
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3.2 Das Lesen des Lebenswegs
So gelangen wir von der Erinnerung zurück zur Beschreibung des Lebens. Den Weg des Lebens zu gehen, ihn weiter zu gehen, ihn als durchlaufenen gegenwärtig zu halten und ihn erinnernd zu wiederholen, sind die auseinandertreibenden Zeitformen, in denen es dem Menschen in seinem Leben um sein Leben geht. Dass unter ihnen der Erinnerung ein herausgehobener Stellenwert zukommt, hängt zuallererst damit zusammen, dass in ihr das Leben zu einer besonderen Präsenz für sich selber gelangt. Seneca hat dies in seinen Reflexionen über die Kürze des Lebens im Kontrast zur inneren Unruhe der ›Beschäftigten‹ betont, welche »keine Zeit haben, auf Vergangenes zurückzublicken« und ihr Leben in der verrinnenden Zeit »in einen Abgrund« entschwinden sehen: Demjenigen aber, der »alle Phasen seines Lebens ruhig zu durchlaufen vermag«, wird die Erinnerung zu einem dauernden, »heiligen und geweihten Teil« der Zeit, in welchem »alle Tage aus der Vergangenheit gegenwärtig werden.«11
In ungezählten Varianten spiegelt sich das Pathos dieser Selbstpräsenz in den Zeugnissen der Tagebücher und Sudelbücher wider, in den Familienalben und Gruppenerzählungen, Lebensnotaten und Weblogs, in denen Millionen ihr tägliches Leben artikulieren, es anderen präsentieren und in den unermesslichen Speicher des Internet, das Gedächtnis der Menschheit einschreiben.12 Dabei geht es um mehr als um das temporale Festhalten gegen die Verflüchtigung des Geschehens und das Zerrinnen der Zeit. Zumal die deskriptiv-narrative Niederschrift steht im Dienste einer Kontinuitätssicherung und inneren Strukturierung, die auf der Bedeutsamkeit der Episoden, ihrem Ort im Leben der Menschen beharrt und darin mit der eigenen Gestalt- und Einheitsbildung des Lebens kommuniziert, an welche sie anschließt, die sie überformt und ablöst, auf die sie zurückwirkt. Schon das Leben selbst kann in dieser Sicht als eine Art »Biographie-Arbeit« erscheinen13, als ein Zusammenfügen der »Zeit-Stücke«, »hinter unserem Rücken«, aber wie »nach unserem geheimen Bedürfnis«, »spannungsreicher, sinnvoller, geschichtenträchtiger« als wir es vermocht hätten, so dass sie sich unvermerkt in »gelebte Zeit«, vielleicht in ein Schicksal, »jedenfalls in einen Lebenslauf« verwandeln.14 Diesen erinnernd heraufzurufen, ihn neu zu gestalten und gegenwärtig werden zu lassen ist ein privilegiertes Medium der Bezugnahme auf sein Leben und der Begegnung mit sich selbst.
Jenseits der temporalen Kontinuität und synthetisierenden Strukturierung geht es dem Erinnern um einen Selbstbezug, in welchem das Subjekt seiner selbst gewahr wird. Erinnerung ist ein Gang der Selbsterkenntnis, des Vertraut- und Bekanntwerdens mit sich, welcher vielfältigen Wegen, Umwegen und Wendungen folgt und die Schranken der externen Beobachtung wie der Introspektion übersteigt. Es ist ein Weg der Annäherung, der nicht eindeutig ist und nicht offen gebahnt vor Augen liegt, sondern in vielen Operationen der indirekten Erschließung, der erklärenden Rückführung und des konstruktiven Entwerfens Horizonte des Verstehens aufspannt, Bilder schafft und Sinnformen erprobt. Wie historische Erkenntnis generell das Durchdringen komplexer Verflechtungen voraussetzt, so ist historische Selbstverständigung mit der Vielschichtigkeit und Dunkelheit des Selbst konfrontiert. Sich über seine Geschichte kennenlernen heißt auch sich mit Zonen der Fremdheit und Unübersichtlichkeit auseinandersetzen: Erinnerungsarbeit ist auch ein Sichabarbeiten an dem, was sich der Erinnerung, dem Verstehen, der sinnhaften Integration entzieht. Gerade das Eigene kann uns fremd, in besonderer Weise verdeckt und undurchdringlich sein. Doch ungeachtet der Widerspenstigkeit ihres Gegenstandes bleibt Erinnerung grundlegend durch die Intention des Verstehens und des Sich-über-sich-Verständigens geleitet. Erinnerung ist ein Bemühen um Aneignung und Selbstwerdung, eine Gegenwehr dagegen, dass Vergangenes, das Teil unserer selbst ist, uns undurchschaut und äußerlich bleibe. Auch wenn sie den Umweg über das Andere und die historische Objektivität nimmt, ist Erinnerung im Ganzen ein Zusichkommen und Sichselbsterfahren. Sie kommt, wie Dieter Henrich formuliert, der »Sammlung des Lebens« zugute, indem sie »auf alles, was Lebensbedeutung hatte, zurückkommt, um an ihm festzuhalten« und ihm Eingang »in das ›Innere‹, das Zentrum des eigenen Lebens« zu verschaffen, »von dem her sich die Lebensbedeutung des Erinnerten aufbaut und bemisst.«15 Dieses Insichgehen ist eine Komplementärbewegung zum Zurückgehen in der Zeit und Heraufholen des Vergangenen in die Präsenz. Das Zueigenmachen des Gewesenen, des Vergessenen und Entschwundenen, ist eine Dimension der Überwindung äußerer und innerer Fremdheit. Die temporale Ver-Gegenwärtigung des Vergangenen, die sinnhafte Strukturierung und Gestaltung, die lebensweltliche Aneignung und die historische Selbstverständigung sind ebensoviele Facetten der Erinnerung als integrativem Moment des Lebensvollzugs.
3.3 Ganzheit und Identität
Solche Erinnerung greift auf das Leben als ganzes aus, um darin sich selbst gegenwärtig zu werden, sich zu erkennen und seinem Leben eine bestimmte Gestalt zu geben. Es ist ein Zurückholen und Wiederaneignen dessen, was uns ohne Gedächtnis unaufhaltsam entgleitet, was wir selbst verlassen, zunehmend aus uns abgedrängt haben, was sich uns verbirgt und uns schrittweise fremd geworden ist. Es ist ein Wiederaufnehmen des Lebens von seinem Anfang her, ein Wiedererwecken dessen, was uns und sich selbst abhanden gekommen ist, was sich vielleicht nie entwickelt hat und sich nie zu eigen war, ein Nachholen des nicht gelebten Lebens, wie es in der Kindheitserinnerung aufscheinen kann.16 Solche Aneignung vollzieht sich nicht im Immediatismus einer Selbstpräsenz im Gewesenen, sondern in einer produktiven Neukonstellierung des durch den Lebensverlauf gestifteten biographischen Zusammenhangs. Sie ist der Umweg, über welchen sich die erkenntnismäßige Erschließung und reflexive Aneignung des Lebens vollzieht. Das Schreiben des Lebens ist das konkrete Medium der entziffernden Lektüre, der in der Rückschau durchgeführten Hermeneutik des Selbst. In ihr verschränkt sich die temporale Synthesis, welche die Ohnmacht des auseinanderfallenden Lebens überformt, mit der Verständigung über sich, in welcher das Subjekt seine Bestimmtheit und Ganzheit findet.
Ein Leitbegriff, unter dem das Ineinander von Selbstwerdung und Erinnerung zur Diskussion steht, ist der Begriff der Identität. Menschen gewinnen über die Erinnerung ihre Identität. Geschichte gilt als Substrat der Identitätsbildung, der Herausbildung der jeweiligen Gestalt und Eigenheit, Historie als Medium der Vergewisserung, der Darstellung und interpretativen Konstruktion eigener und fremder Identität. Allerdings sind solche Formulierungen so explikationsbedürftig wie der Begriff selbst. Der Zusammenhang von Erinnerung und Identität ist unter vielfachen Facetten im Feld der Sozial-, Kultur- und historischen Wissenschaften zum Thema geworden.17 An dieser Stelle soll indes nicht vom breitgefächerten kulturwissenschaftlichen Diskurs, sondern von formalen Unterscheidungen ausgegangen werden, die sich im Kontext der Philosophie mit dem Begriff verbinden. Als basale Unterscheidung fungiert normalerweise die zwischen numerischer und qualitativer Identität.18
Die numerische Identität steht für die Unterscheidung des einen von anderen seiner Art, die heraushebende ›Identifikation‹ des Einzelnen unter anderen. Dass Menschen durch Geschichte ihre unverwechselbare Besonderheit erwerben, dass sie sich erinnernd ihrer Singularität, ihres Unterschiedenseins von anderen vergewissern, ist ein Grundgedanke der historischen Kultur, der sich in deren Methodologie widerspiegelt; die neukantianische Gegenüberstellung von Natur- und Geschichtswissenschaft ordnet der letzteren das Interesse am Individuellen (Rickert) beziehungsweise die individualisierende Betrachtung (Windelband) zu. Auch Gesellschaften und kulturelle Gebilde spezifizieren sich im Laufe der Zeiten und werden durch das, was ihnen geschieht und was auf sie einwirkt, in ihrer Eigenart geprägt. Für zeitlich existierende Entitäten hat die ›Individuation‹– neben der vorgegebenen, etwa genetischen Singularität – wesentlich mit der durchlaufenen und angeeigneten