Reform des Islam. Abdel-Hakim Ourghi
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Im Islam wird zu wenig hinterfragt und vieles ohne Reflexion hingenommen. Besonders die in den muslimischen Gemeinden im Westen vermittelte Religion ist realitätsfremd, nicht zukunftsfähig und unterliegt einer Pädagogik der Unterwerfung. In den hiesigen Moscheen wird permanent eine Religiosität des Verwerflichen gepredigt. Import-Imame und die Wortführer konservativer Politikorganisationen lehren einen starren Katalog von Gut und Böse. Ihr religiöser Diskurs definiert sich einzig durch die Abwertung der Anhänger anderer Religionen, nicht durch die differenzierte Auseinandersetzung mit den eigenen Werten. Ihre Predigten und der sogenannte Koranunterricht in den Moscheen sind eine Ansammlung fertiger Antworten, die eine Suche der Gläubigen nach ihrem Selbst in Berührung mit dem Anderen verhindern wollen.
Die Islamisten haben praktisch nichts Neues erfunden. Sie haben nur das, woran alle Muslime glauben, in die Tat umgesetzt. Die radikalen Muslime
„haben schlicht die Inhalte des gängigen Islamverständnisses überspitzt und radikalisiert. Ihre Haltung zum Umgang mit ‚Ungläubigen‘, ihre Haltung zur umma, zur religiösen Gemeinschaft der Muslime, oder zur Rolle von Mann und Frau unterscheidet sich nur graduell, nicht prinzipiell. Die Basis ist die gleiche, beide, der Imam von nebenan und der IS-Ideologe, teilen miteinander viele Worte, Ängste, Tabus, Abwehrstrategien. Es sind diese veralteten, verkrusteten Inhalte, die mit der aufgeklärten Moderne derart in Kollision geraten, dass aus der Reibung eine Truppe wie der IS entstehen kann.“16
Der Islam selbst wurde zu einer Ideologie der Macht. Immer wieder wurde das Kollektiv über das Individuum gestellt, jede Kritik der Religion und jede Auseinandersetzung mit der Geschichte des Islam wurde verboten. Es ist nicht übertrieben, wenn man in diesem Zusammenhang von einer patriarchalisch-archaischen Stagnation spricht.
Ich möchte die religiöse Identität der Muslime einer schonungslosen Kritik unterziehen. Die kollektive Sinnkrise des Islam zwingt uns Muslime, in den Spiegel zu schauen und uns den Anblick eines entstellten Antlitzes nicht zu ersparen. Es ist das Gesicht des Islam, der die Herrschaft über die Welt gewinnen will und dabei über Leichen geht. Es ist das Gesicht des konservativen Islam im Westen, der den Westen islamisieren und die hier geborenen, liberalen Muslime re-islamisieren will.
Die Reform des Islam ist eine unverzichtbare Notwendigkeit, die allerdings nicht von selbst kommen wird. Sie ist kein unerwarteter Blitz aus heiterem Himmel. Sie ist das Endergebnis einer Reihe schrecklicher Ereignisse in schwierigen Zeiten, die ihre Geburt beschleunigen. Die Menschen spüren ein tiefes Reform- und Erneuerungsverlangen, das nicht mehr zu bremsen ist. Es scheint, dass die Gesellschaft auf einzelne Personen wartet, welche die Kraft und den Mut haben, ihr durch die Reformierung des Glaubens neuen Schwung zu geben.
I I I. D I E W Ä C H T E R D E S T E M P E L S
Im offiziellen Diskurs der Wortführer der muslimischen Gemeinde in Deutschland und anderer konservativer Muslime, darunter auch der Neo-Muslime (Konvertiten), hat sich inzwischen die Ansicht verfestigt, der Islam sei nicht reformierbar. Der Islam sei keine christliche Religion, die Reformation der eigenen Lehre sei ein dem Islam wesensfremder Gedanke. Die Freiheit des Einzelnen ist selbst vielen Muslimen im westlichen Kontext suspekt und deshalb scheuen sie sich davor, die kanonischen Quellen des Islam, deren historische Rezeption in der Ideengeschichte der klassischen Wissenstradition und die Aktualität des Islam infrage zu stellen. Diese vehemente Ablehnung machen sich insbesondere Salafisten zunutze, die ihrerseits den Islam als Geisel nehmen. Die Angst vor Neuem und vor der Moderne scheint im Islam übermächtig zu sein. Ein tunesischer Islamreformer stellt fest:
„Das Neue schwimmt gegen den Strom, besonders wenn es um die Religion geht. Der konservative Mensch fürchtet das Neue. Er hat Angst vor unangenehmen Fragen, weil sie seine soliden und sicheren Überzeugungen erschüttern. […] Die Gegner der Reformer sind gewiss die Konservativen.“17
Der Autor weist darauf hin, dass die Ablehnung einer Reform im Islam mit der lähmenden Macht der Konservativen zu tun hat. Immer wieder hört man von diesen die These, der Islam brauche keine Reform. Entsprechend kann es den Muslimen in der ganzen Welt nur durch Bildung gelingen, vom blinden Glauben zu einem reflektierenden Glauben überzugehen.18 Die Verweigerer der Reform des Islam wissen genau, wie schwer es ihnen fällt, Wahrheiten über sich selbst und den Islam zu ertragen. Sie fürchten die Aufdeckung dieser kollektiven Verdrängungsmechanismen und erträumen und entwerfen im Gegenzug ein Bild des Islam, das der Realität nicht mehr entspricht. So schrieb die türkische Zeitung Milli Gazete am 9. September 2005 auf der vierten Seite:
„Der islamische Glaube braucht keine Reformen, Veränderungen und Erneuerungen. […] Die Thesen einiger Radikaler, Konvertiten und Reformer sind komplett falsch. Im Islam gibt es keine Reformen. […] Reformen und Veränderungen können nur in verdorbenen Religionen, in menschlichen Ideologien und Lehren durchgeführt werden.“19
Die zitierte Zeitung steht der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) sehr nah, die seit Jahren unter intensiver Beobachtung des Verfassungsschutzes steht.20 Wenn solche Ansichten in international vertriebenen muslimischen Tageszeitungen verbreitet werden, ist es kein Wunder, dass viele Muslime im Westen die humanistischen Begründungsversuche einer Islamaufklärung vehement ablehnen. Interessant scheint in diesem Kontext die Verwendung des Terminus „verdorbene Religionen“. Anscheinend handelt es sich um eine Anspielung auf das Judentum und das Christentum. Wenn die Muslime das tägliche Gebet praktizieren, rezitieren sie jeden Tag 17 Mal die erste Sure des Koran, „die Eröffnende“. In dieser Sure wird gebetet:
„Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die Deinem Zorn verfallen sind und irregehen!“ (Koran 1:6–7).
Die gesamte muslimische Koranexegese ist der Auffassung, dass mit der ersten Gruppe die Juden gemeint sind und mit der zweiten die Christen.
Der konservative Islamwissenschaftler Muḥammad Sameer Murtaza, der den islamischen Dachverbänden sehr nahe steht, veröffentlichte im Jahr 2016 ein populärwissenschaftliches Buch mit dem Titel Die gescheiterte Reformation, dessen Thesen zum größten Teil von den Überzeugungen der Salafisten und Dschihadisten nicht zu unterscheiden sind. Deshalb ist es angebracht, dieses Pamphlet genauer unter die Lupe zu nehmen. Ähnlich meinem Buch, aber in zynischem Tonfall, beginnt seine Einleitung mit den folgenden Fragen:
„Wann kommt es endlich zu einer Reformation im Islam? Wo ist der muslimische Martin Luther? Wo bleibt der längst überfällige Thesenanschlag im Islam?“21
Offensichtlich will der Autor nur provozieren. Denn schon der Titel seines ersten Kapitels benennt sein Programm.