Reform des Islam. Abdel-Hakim Ourghi
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Murtaza scheint auf einem Feldzug gegen muslimische Reformer in Deutschland zu sein. Er übt hemmungslose Kritik an einigen Vertretern des liberalen Islam in Deutschland und unterstellt ihnen sogar Ahnungslosigkeit. Er macht auch kein Hehl daraus, dass er Sympathie für die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) und den Zentralrat der Muslime hegt.25 Beim Lesen seines Werkes gewinnt man schnell den Eindruck, dass der Autor von der Kanzel der Populärwissenschaften gegen alles predigt, was mit dem liberalen Islam zu tun hat. Das Buch scheint eine Abrechnung zu sein. Er beschuldigt die Liberalen der dramaturgischen Selbstinszenierung. Jedoch muss man als Leser konstatieren, dass der Autor beim Thema Reform des Islam selbst ziemlich überfordert ist. So heißt es bei ihm zum Beispiel:
Der ‚liberale Islam‘ ist ein neues Phänomen, das im Westen entstanden ist.“26
Ein solcher Kardinalfehler sollte einem Kritiker des liberalen Islam nicht unterlaufen. Seine unsachliche Kritik ist symptomatisch für die Haltung einiger muslimischer Islamwissenschaftler gegenüber aufklärerischen Stimmen im Islam. Solch ein gewagter Satz zeigt deutlich sein Wissensdefizit hinsichtlich des historischen Entwicklungsprozesses des liberalen Islam in der arabischen Welt. Es genügt an dieser Stelle, an einige Werke zu erinnern, die sich für einen liberalen Islam eingesetzt haben. Schon im Jahr 1885 erschien das Buch des algerischen Gelehrten Muḥammad Ibn Muṣṭafā Ibn al-Ḫūğa (1864–1915) mit dem Titel Beachtung der Sorge um die Rechte der Frauen, in dem es um die Befreiung der muslimischen Frauen ging. Fünf Jahre später verfasste der ägyptische Reformer Qāsim Amīn (1865–1908), der in Frankreich studiert hatte, sein monumentales Werk Die Befreiung der Frau.27 Zu den Hauptthesen des Werkes gehört erstens, dass der Aufruf zur Befreiung der Frau kein Verstoß gegen die Religion ist. Zweitens betont er, dass die Trennung zwischen Frauen und Männern nicht auf das islamische Recht zurückzuführen ist. Drittens – seine wichtigste These –, dass der in seiner Zeit sich ausbreitende Schleier überhaupt nichts mit dem Islam zu tun habe. Im Jahr 1925 dann schrieb der Reformgelehrte ʻAlī ʻAbd ar-Rāziq (1888–1966), der in Oxford studiert hatte, ein Buch mit dem Titel Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft.28 Seine wichtigste These besagt, dass es im Koran und in der Tradition des Propheten keine Legitimation für einen Herrschaftsanspruch gibt. Dass der Prophet auch Herrscher war, wäre eine geistliche und politische Entscheidung gewesen, die mit den damaligen Umständen im 7. Jahrhundert zu tun gehabt hätte. Mit dieser These wollte der Autor einen klaren Trennstrich zwischen dem Profanen und dem Heiligen ziehen, was zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit der historischen Funktion des Propheten hätte führen können. Doch ʻAbd ar-Rāziq wurde aus seinem Amt als Richter entlassen und lebte bis zu seinem Tod zurückgezogen. Die Liste solcher Werke als Fundament für den liberalen Islam kann beliebig verlängert werden. Fest steht, dass es bereits all diesen muslimischen Reformern in erster Linie um „eine islamisch begründete säkulare Moderne“29 ging, die jedoch bis heute, auch im Westen, bekämpft wird.
Der oben zitierte Reformgegner Murtaza scheint außerdem der Überzeugung zu sein, dass die Erneuerungsbestrebungen im Islam aus den Moscheen kommen.30 Konkretes teilt er uns leider nicht mit. Schade, es wäre tatsächlich ein konstruktiver Vorschlag. Denn würden die Imame in den Moscheen sich mit der Vernunft versöhnen, wäre es möglich, eine Reform des Islam in die Tat umzusetzen. Die Geschichte der Moscheen im Westen, in denen Import-Imame tätig sind, zeigt jedoch, dass sie au contraire einen erheblichen Anteil an der gescheiterten Integration vieler Muslime haben. Es ist – mit Blick auf diese Moscheen – kein Wunder, dass die Mehrheit der Muslime nationalistisch und konservativ sind. Ein schlagender Beweis sind die Moscheen der DITIB und des Zentralrats der Muslime.
Die Import-Imame sind den heutigen Herausforderungen im Westen noch nicht gewachsen, deshalb sind sie nicht in der Lage, den Islam zu reformieren und sich an die Moderne der westlichen Kultur anzupassen. Diese Gelehrten, die von ihren Kollegen in der islamischen Welt letztendlich nicht zu unterscheiden sind, haben eine Art Frage-Verbot in den muslimischen Gemeinden Europas institutionalisiert. Mit vorgefertigten Antworten zwingen sie den Mitgliedern ihrer Gemeinden ihre Lehre auf und berufen sich dabei auf veraltete Sichtweisen, die angeblich für alle Zeiten und alle Orte gedacht waren. Ihre Predigten kommen als Gewissheiten daher, die zu befolgen sind und von niemandem in den Moscheen infrage gestellt oder bezweifelt werden dürfen. Jeder Imam, der die historisch-politische Rolle oder die Aussagen des Propheten, oder etwa den medinensischen Koran infrage zu stellen versucht, wird aus seiner Moschee verjagt. Denn die kanonischen Quellen sind ein Tabu.
Ein alternativer Ursprungsort einer Reform des Islam könnte der islamische Religionsunterricht sein. Der schulische Religionsunterricht wäre tatsächlich in der Lage, das Gesicht des Islam im Westen und die hiesige religiöse Landschaft zu verändern. Er könnte eine neue Generation des Islam in Europa an eine säkulare Gesellschaft heranführen, in der moderne Werte wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Pluralismus und Demokratie unantastbar sind.
Was die konservativen Muslime und ihre Vertreter in der intellektuellen Szene wie Murtaza hingegen propagieren, ist die Re-Islamisierung der Moderne. Sie predigen eine Gegenaufklärung als Denk- und Lebensmodell. Im Sinne dieser Re-Islamisierung ist Widerstand nicht nur gegen die Vernunft zu beobachten, sondern auch gegen alle aufgeklärten Bestrebungen, welche die religiöse Legitimität der historischen und gegenwärtigen Herrschafts- und Patriarchatsstrukturen auf den Prüfstand stellen.
Diesen Gegnern der Aufklärung geht es letztendlich um die Deutungshoheit. Sie wollen bewusst verhindern, dass die Muslime in Glaubensfragen und religiösen Angelegenheiten dem eigenen Gewissen folgen. Sie wollen bestimmen, wie die Beziehung des Menschen zu Gott aussehen soll. Darüber hinaus schüren sie unter den Menschen die Furcht vor einem Gott, der nur darauf wartet, sie schonungslos in die Hölle zu schicken. Seit Jahrhunderten versetzen sie die Muslime permanent in Angst.
Die Verweigerer der islamischen Reform wissen genau, dass der reflektierte Islam eine Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit bedeutet. Sie sind sich auch der Tatsache bewusst, dass die Muslime durch die Anwendung der Vernunft in ihrem Glauben und Handeln den Geist der Freiheit atmen könnten. Schließlich geht es in der Reform des Islam nicht darum, das Unmögliche zu wagen, um das Mögliche zu erreichen. Es geht lediglich darum, die kanonischen Quellen des Islam, die im Laufe der Jahrhunderte zu einem Menschenwort geworden sind, auf der Grundlage der Vernunft zu diskutieren, differenzierter wahrzunehmen und besser zu verstehen. Es geht darum, die Religiosität der Musliminnen und Muslime in Angstfreiheit wachsen und reifen zu lassen, hin zu mehr Kreativität und sozialer Mitverantwortlichkeit. Die Reform des Islam ist heute notwendig und auch möglich. Es fehlt uns lediglich der Mut dazu.
Ziel der Reform des Islam ist es, dass der Islam in religiösen Angelegenheiten auf dem Prinzip der Vernunft aufbaut. Es genügt nicht, nur über die Vernunft zu sprechen; die Muslime müssen sie sich im religiösen Diskurs zu eigen machen. Dadurch kann der Islam anderen Religionen und Weltanschauungen auf Augenhöhe begegnen. Unter Vernunft in der Religion verstehe ich auch die Trennung von Sakralem und Säkularem. Auch im Islam sollen Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit sowie Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, zwischen