Reform des Islam. Abdel-Hakim Ourghi
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Eine solch verzerrte Rezeption hat zwei Konsequenzen: Erstens wird der Korantext allzu häufig aus seinem aktuellen Kontext herausgerissen behandelt, ganz zu schweigen von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit seinen Themen. Während also der Historizität des Koran ungleich viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, interessiert sich die westliche Islamwissenschaft kaum für dessen Inhalte. Zweitens ist die Frage nach der Urheberschaft des Korantextes, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk der westlichen Koranwissenschaftler zieht, in der Islamwissenschaft zentral. Und bis heute schreiben die Vertreter dieses Faches die Autorenschaft dem Propheten Muḥammad zu. Damit will man nichts anderes, als dem Koran seine Natur als Gottes Wort abzusprechen und ihn stattdessen zu einem Machwerk des Propheten zu erklären – stets einhergehend mit dem impliziten Vorwurf, Muḥammad habe beim Verfassen des Koran aus anderen heiligen Schriften abgeschrieben.
Ein unmittelbares Indiz für die Autonomie des Koran von seinem historischen Ursprung ist der Korantext selbst. Nicht nur die Prozessualität der Textgenese bei seiner Verkündung, sondern auch seine kommunikative Sprachstruktur verleihen dem Koran als Text eine gewisse Originalität und Eigenständigkeit, die ihn nicht unmittelbar mit anderen heiligen Schriften vergleichen lässt. Seine vielgestaltigen Redeformen und Sprachakte bezeugen deutlich eine große literarische Partitur, welche eine immer wieder neue Lektüre des Korantextes ermöglicht und legitimiert. Als selbstreferentieller Text mit einer interpretativen Fortschreibung seiner selbst in Form eines Korantextwachstums verhält sich der Korantext in seiner stilistischen und sprachlichen Intention wie ein literarischer Text, welcher seinen eigenen Inhalt und seine eigene Sprachform zum Gegenstand macht. Er wiederholt sich nicht nur, sondern kommentiert sich ständig selbst und bereichert seine Themen mit neuen sprachlichen und inhaltlichen Informationen.
Der Leser entdeckt einen Wandlungsprozess durch die Sprach- und Stilentwicklung im Korankorpus selbst. Diese illustrieren deutlich die Debattenlandschaft zwischen dem Propheten und seiner Hörerschaft im 7. Jahrhundert. Der Korantext ist somit nicht nur eine religiöse Schrift, sondern auch ein literarisches Werk par excellence. Nicht nur seine Heilsgeschichten, sondern auch die zahlreichen Termini, welche einer kommunikativen Textentfaltung im Sinne einer Sinnerweiterung unterliegen, sind ein deutlicher Beleg hierfür. Durch seine Autonomie illustriert er die Sinnentfaltung seiner eigenen internen Exegese – die Schrift legt sich selbst am besten aus und wird durch die Exegese des Menschen entfaltet und bereichert. Der Koran spricht jedoch nicht von selbst, es sind die Menschen, die ihm Sinn verleihen.
Vorab soll verdeutlicht werden, dass ich zwischen dem humanistisch-ethischen und politisch-juristischen Koran unterscheide. Der Teil des Koran hingegen, der zur politischen und sozialen Organisation der Gemeinde des Propheten diente, kann nur aus seinem Entstehungskontext verstanden werden. Er hat keine Anwendungsgültigkeit in der heutigen Lebenswelt der Muslime. Dazu gehören auch die sogenannten Schwertverse, die Koranpassagen über den Umgang mit den Juden und Christen sowie die Koranstellen über die Stellung der Frau.
Historisch-kritisch gesehen kann zwischen dem historischen Muḥammad auf der einen Seite und dem Koran als Quelle des Glaubens auf der anderen unterschieden werden, denn der Prophet selbst war schlicht ein Verkünder von Gottes Wort. Ein Bezug allein auf die Inhalte des Korantextes befreit die historische Erforschung des Propheten auch von späteren muslimischen theologischen Projektionen, die ihn zum Beispiel als Analphabeten sehen.
3. Jede Muslimin und jeder Muslim hat die Freiheit, den Koran so zu interpretieren, wie sie oder er will.
Die Autonomie des Koran als religiöser Text setzt die Freiheit des Muslims als Exeget voraus und begründet gleichzeitig sein reflektierendes und sogar kritisches Verstehen, denn es besteht eine Wechselwirkung zwischen der Entstehungssituation des Koran und der Lebenswelt des Exegeten. Die vielfache Exegese des Koran muss nicht unbedingt zu sich widersprechenden Interpretationen führen. Denn die aus einem freien und kreativen Umgang mit dem Korantext entstandenen Auslegungen können sich auch konstruktiv ergänzen und bereichern. Somit besitzt kein bestimmter Muslim oder keine muslimische Gruppe das Deutungsmonopol über den Koran. Dies bedeutet auch, dass jede Muslimin und jeder Muslim das absolute Recht hat, den Koran gemäß ihrer oder seiner Lebenswelt zu interpretieren.
Im Koran gibt es keinen Beleg dafür, dass es den Muslimen verboten wäre, frei zu denken. Immer wieder lesen wir im Koran den Aufruf, dass alle Muslime über ihre Religion und ihr Leben nachdenken und reflektieren sollen. In mehreren Kontexten ruft der Koran die Muslime dazu auf, sich ihrer Vernunft zu bedienen. Ausgedrückt wird dies mit verschiedenes Termini, die sich in einer spannungsvollen Weise ergänzen: Die Muslime sollen über den Koran „nachdenken“ (tadabbur, Koran 10:24 und 16:44); der Koran ist als Schrift in arabischer Sprache hinabgesandt, deshalb sollen sich die Muslime darüber „Gedanken machen“ (Koran 12:2 und 43:3); auch ist im Koran die Rede von Menschen, die in Sachen Religion „Verstand besitzen“ (ūlū al-albāb, Koran 3:190 und 38:29).
Mohammed Arkoun (1928–2010) betont, dass es im Islam keine Instanz gibt, die für sich die alleinige Autorität beanspruchen darf. Die Interpretationen des Koran könnten sich auf der Basis von Meinungsfreiheit und -verschiedenheit ergänzen. Deshalb sei der Koran, wie jede religiöse Schrift, offen für alle Interpretationen, die das Wort Gottes mit neuen Sinninhalten bereichern. Es sei selbstverständlich, dass der Koran nicht nur religiöse Informationen mitteile, sondern Kommunikation stifte und die Menschen zum Nachdenken ermutige. Daher sei die Freiheit der Interpretation grundlegend.32
Die Freiheit der Muslime bei der Exegese ist in meinen Augen ein wesentliches Element, besonders wenn es um die Etablierung eines diskursiven Islam im westlichen Kontext geht. Der Anspruch auf das Monopol einer einzigen und richtigen Lesart der kanonischen Quellen und der Wissenstradition kann von keinem Gelehrten und von keiner bestimmten Glaubensgemeinschaft oder Gruppierung, wie etwa hierzulande den sogenannten Dachverbänden, beansprucht werden, denn dies führt zur Unmündigkeit des Textes und des Lesers. Eine übergeordnete Lehrinstitution gab es in der Geschichte des Islam nicht und jeder heutige Versuch, eine solche zu schaffen, würde nicht nur das Verstehen des Islam und seiner Ideengeschichte stagnieren lassen, sondern die Freiheit der pluralen Interpretation aufheben.
Der Ruf nach der Autonomie des Koran als Text und nach der Freiheit der Interpretation ist eine Ermutigung der Muslime zur Erneuerung der islamischen Religion sowie die Voraussetzung für eine Wiederbelebung des freien Denkens aller Muslime. Die Freiheit der Koranauslegung impliziert auch die Freiheit all jener Andersdenkenden, die ebenfalls nach einer modernen und humanistischen Lesart des Koran streben. Selbstverständlich bedeutet freie Interpretation weder plakative Ablehnung noch Revolution gegen das historische Erbe der islamischen Kultur. Eine freie Interpretation ist darum bemüht, die kanonischen Quellen und deren Rezeption historisch-kritisch zu verstehen. Sie will den Koran bewusst von seinem hagiografischen Sinn befreien. Deshalb ist und bleibt die Freiheit des muslimischen Lesers als Exeget unantastbar.
4. Eine Reform des Islam
braucht mutige Reformer.
Selbstverständlich können und müssen alle Muslime