Der Lucas ist los!. Jeff Lucas
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Was die ganze Tragödie um Rader noch schlimmer macht, ist, dass er sich selbst als Christ bezeichnet und bis vor Kurzem Kirchenvorstand einer lutherischen Gemeinde war. In einer wirren Verlautbarung zitierte er aus der Bibel, las ein paar Zeilen aus einem Andachtsbuch vor und deutete an, Dämonen hätten ihn zu seiner drei Jahrzehnte umspannenden Mordserie inspiriert. Seinem Strafverteidigerteam zollte er den überschwänglichen Dank eines Oscar-Gewinners. Doch nicht ein einziges Mal hielt er inne, um eine ernsthafte und überlegte Bitte um Entschuldigung an die Angehörigen seiner Opfer zu richten. Das Höchste, wozu er sich durchringen konnte, war: „Was die Reue angeht, nun, das ist offensichtlich.“ War es aber nicht. „Es tut mir leid“ wäre ein kleiner, aber willkommener Anfang gewesen.
Das amerikanische Justizsystem gibt den Angehörigen von Mordopfern die Möglichkeit, sich bei der Urteilsverkündung zu äußern. Fünfzehn Personen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Da dieser Prozess im amerikanischen Bible Belt stattfand, waren die meisten von ihnen bekennende Christen. Und den meisten von ihnen war ihr Hass gegen Rader deutlich anzumerken. Mit knirschenden Zähnen hielten sie ihm vor, er werde für immer in der Hölle schmoren. Manche waren offensichtlich freudig erregt über diese Aussicht. Die beißendste Äußerung kam von einem Mann, der ein christliches Buch über das Leid geschrieben hatte. Voller Genugtuung überschüttete er den Mörder seiner Mutter mit Beleidigungen und verkündete dann abermals das Urteil: „Sie werden für immer braten, ohne jede Aussicht auf Bewährung.“ Die Wonne, mit der er diese Worte sprach, das Gesicht wutverzerrt, hatte etwas Obszönes. Eine Sekunde lang schien es, als wäre in diesem Gerichtssaal mehr als nur ein Monster anwesend. „Ehe ich ihm vergebe, friert die Hölle zu“, sagte er später zu Reportern.
Ich will nicht über die Angehörigen dieser Mordopfer urteilen. Ihre Qualen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, die Tiefe ihrer Trauer nicht einmal annähernd ermessen. Ich selbst ertappte mich dabei, wie ich den Fernseher anschrie, als ich mir den grausigen Katalog seiner Verbrechen anhörte. Rader ist zweifelsohne ein widerwärtiger Zeitgenosse, und ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren würde, wenn er das Leben meines Sohnes oder meiner Tochter ausgelöscht hätte. Ich fürchte, ich wäre vielleicht auch einer von denen, die lautstark fordern würden, ihn zu rösten. Keiner von uns weiß, wie wir reagieren werden, wenn wir auf die Probe gestellt werden, und wir alle sollten innig darum beten, dieser Art von Prüfung niemals unterzogen zu werden.
Doch eine Tragödie zieht die andere nach sich. Und dem heutigen Ereignis fehlte jeder Schimmer von Hoffnung, weil nicht einer dieser bekennenden Nachfolger Christi – weder der Täter noch die Opfer – die Gnade fand, auch nur ansatzweise nach Vergebung zu suchen oder sie zu gewähren. Der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden, und Rader darf nie wieder das Licht des Tages unter freien Menschen sehen. Doch gestern wühlten der Verurteilte ebenso wie diejenigen, die ihn verurteilten, im selben traurigen Sündenpfuhl herum. Und beide Seiten gebrauchten, wie es schon unzählige Male in der Geschichte geschah, die Bibel als ungeschickt geschwungenes Schwert und trafen damit nicht nur die Anwesenden im Gerichtssaal, sondern auch jeden, der sich den Prozess im Fernsehen anschaute. Die Bibel ist in den falschen Händen eine gefährliche Waffe.
Unwillkürlich fragte ich mich, ob die Familien der Opfer sich dadurch selbst nicht auch zu lebenslangen Strafen hinter den unsichtbaren und dennoch eisernen Gittern der Verbitterung verurteilten. Wut ist kein lasergezieltes Geschoss – sie explodiert in unserem eigenen Gesicht. Der Erste, dem die Vergebung nützt, ist der Vergebende; sie ist nicht nur ein Akt verblüffender Großzügigkeit gegenüber anderen, sondern auch eine clevere Strategie der Selbsterhaltung. Vergebung ist buchstäblich die Gabe, die immer weiter gibt, und zwar am meisten dem, der sie gibt.
Und so fühle ich mich zutiefst herausgefordert, nicht nur, was meine Fähigkeit zur Vergebung gegenüber anderen betrifft, sondern auch was die Art angeht, wie ich die Heilige Schrift gebrauche. Die Wahrheit tut manchmal weh, aber tue ich nicht hin und wieder auch durch die Art, wie ich sie sage, anderen weh? Schon viel zu viele Christen haben sich gegenseitig im Namen Christi in Stücke gehauen. Manchmal sind wir so erpicht darauf, die scharfe Schneide der Schrift zu gebrauchen, dass wir ganz vergessen, dass Wahrheit ohne Liebe überhaupt keine Wahrheit ist.
Und die Hölle, was immer das ist, wird nicht zufrieren. Doch der Himmel steht immer noch gebannt da und wartet voller Hoffnung auf die Verwundeten, die sich mühsam weiterschleppen und, zwar blutend, aber ohne die Bibel als Hiebwaffe zu missbrauchen, mit der Vergebung den Anfang machen.
WILLKOMMEN
Kürzlich verlegten wir unseren Wohnort in England in ein kleines Dorf, das sich in die herrlichen grünen Hügel der South Downs schmiegt. Manchmal fühlt es sich an, als wären wir geradewegs in einen Agatha-Christie-Roman hineingeraten, so idyllisch und durch und durch britisch ist dieser Ort. Es gibt einen Pub, in dem himmlisches Essen serviert wird, ein Postamt, das nur selten geöffnet hat, und einen unbesetzten Hofladen: Man nimmt sich einfach, was man braucht, schreibt seinen Namen in ein Buch und legt das Geld in eine Schüssel. Das ist ein Unternehmen, das auf einem heutzutage selten gewordenen Gut basiert: Vertrauen. Es ist wunderbar. Und nur eine Meile vom South Downs Way entfernt, sodass ich meine Vier-Meilen-Quälerei-Runde laufen und dabei auf das Flickenmuster der herrlichen Landschaft zu meinen Füßen hinabblicken kann.
Allerdings haben wir uns zuerst gefragt, ob wir wohl in diese Gemeinde hineinpassen. Manche der Leute in dieser Gegend gehören zu Familien, die seit über hundert Jahren hier ansässig sind. Was die wohl von „Zugezogenen“ halten mochten? Dazu kommt, dass die meisten Leute im Dorf mit einem volltönenden Akzent sprechen, bei dem ich als Mann aus Essex mir vorkomme wie Del Boy bei einem Gymkhana. Als ich mich neulich im Dorf mit einem sechzehnjährigen Jungen unterhielt, machte ich mich darauf gefasst, über Ich bin ein Star – holt mich hier raus, den neuesten Song von Eminem oder das Abschneiden von Arsenal beim Cup plaudern zu müssen. Da er wusste, dass ich neu im Ort war, fragte er mich, wieder einmal im besten Oxbridge-Akzent, ob ich die Arundel Cathedral schon von innen gesehen habe. Noch nicht, antwortete ich. „Oh, das müssen Sie unbedingt“, rief er. „Sie ist wirklich prachtvoll.“ Beschämt von diesem höchst kultivierten Heranwachsenden ergriff ich die Flucht.
Aber uns erwartete ein herrlicher Schock, als wir schließlich einzogen. Eine unserer Nachbarinnen erschien mit einer Flasche Champagner und eröffnete uns dann, sie habe eine Willkommensparty für uns geplant. Ein paar Wochen später waren wir die Ehrengäste bei einer Fete mit den ausgesuchtesten Köstlichkeiten, bei der noch reichlich mehr Champagner floss. Es kamen etliche Leute, darunter der Pfarrer und seine Frau. Er ist ein freundlich lächelnder Mann, der mir ohne eine Spur von Frostigkeit erklärte, er und ich kämen „von den entgegengesetzten Enden der Kerze“. Nachdem ich zum Gottesdienst in der Kirche war, muss ich sagen, sie „High Church“ zu nennen ist ungefähr so, als würde man sagen, der Mount Everest sei „ziemlich hoch“. Dieser Bursche segnet alles, was sich bewegt, singt alle seine Gebete und spritzt mit Weihwasser um sich wie ein Baptist auf Duracell. Trotz unserer unterschiedlichen kirchlichen Prägung jedoch schätze ich seine Herzlichkeit und fühle mich von seiner offenkundigen Liebe zu Gott inspiriert und herausgefordert.
Wir fragten unsere wunderbare Nachbarin, die die Party geschmissen hatte, warum sie so großzügig gewesen sei, und sie sagte, ihr sei einfach daran gelegen, dass wir uns willkommen fühlen. Es war ein wunderbarer Abend, der von meiner eigenen nervösen Ungeschicklichkeit nur leicht beeinträchtigt wurde. Alle Leute dort hatten so einen kultivierten Ton drauf. Nach etwa einer Stunde ertappte ich mich dabei, wie ich ihnen nacheiferte. Der Junge aus Ilford verschwand; statt seiner verwandelte ich mich in ’Enry ’Iggins aus Windsor; Eton sogar. Meine Aussprache des Wortes „house“ (normalerweise „ouse“) verwandelte sich