Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37. Thomas Jung
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37 - Thomas Jung страница 4
Versagung und Verfall als Grundkonstanten körperlichen Daseins: Die Erkenntnis der Armseligkeit der physischen Existenz »zündet« ins oberste Interesse, ins »Was ist das und Wohin geht es« (ND, 359). Die im Materiellen schmerzlich präsente Gewissheit der Endlichkeit ist Ausgangspunkt für das metaphysische Fragen; sie weckt die Begehrlichkeit, über die bestehenden Widersprüche hinauszugehen zu einem ganz anderen Ganzen, das jedoch nicht begrifflich rein, als im idealen System sich verwirklichendes Absolutes vorgestellt werden darf. Eine Versöhnung der bestehenden Widersprüche im Denken weist Adorno schließlich kategorisch barsch zurück: »Unversöhnlich verwehrt die Idee von Versöhnung deren Affirmation im Begriff« (ND, 163). Entsprechend wird von Adorno die Aufgabe von Philosophie begriffen als aporetisches Unterfangen, mit den Mitteln des Denkens über das Denken hinauszugelangen: »An Philosophie ist es, das vom Gedanken Verschiedene zu denken, das allein ihn zum Gedanken macht, während sein Dämon ihm einredet, daß es nicht sein soll« (ND, 193).
Wenn Adorno sich also »im Augenblick ihres Sturzes« mit der Metaphysik solidarisch bekennt (ND, 400), dann gilt seine Solidarität fraglos dem Wahrheitsanspruch der Metaphysik, »ihrem alles Bestehende auf ein Absolutes hin transzendierenden Impuls«.9 Dieser Wahrheitsanspruch aber wird für Adorno gleichsam freigesetzt, und so auch erst fassbar, im Augenblick ihres Sturzes, in dem vor der hehren Frage nach den letzten Dingen unversehens ganz ungewohnt handfeste Gegenstände auftauchen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit« (ND, 29). Mit dieser so typisch apodiktischen Feststellung zerrt Adorno die Idee der Wahrheit grob aus dem Elfenbeinturm heraus und mutet ihr zu, sich im Dunstkreis eines schieren Materialismus zu bewähren.10
Diese Veränderung des Wahrheitsanspruchs hat Adorno in der Philosophischen Terminologie auf die grundlegende Einsicht zurückgeführt, »daß der Mensch als ein empfindendes, erlebendes, erkennendes Wesen selber auch wesentlich Leib ist«11, und zur Kompensation eines so notorischen wie systematischen Reflexionsdefizits aller klassisch idealistischen Metaphysik auf ein »Aroma des Materialismus« verwiesen, das den Erfahrungsraum zwischen der »Organlust« und dem Tod prägt.12 Zugleich postuliert Adorno aber auch, dass dem Materialismus schon von sich aus ein ursprünglicher metaphysischer Erfahrungsgehalt zukommt. In spezifisch materialistischer Perspektive ist schließlich die Beziehung zum Leib identisch mit der Beziehung zum Tod »als dem Niedrigen, Widerlichen und Naturverfallenen, dem wir alle bis heute unterworfen sind«13.
Die metaphysische Wahrheitsfrage gründet dann für Adorno keineswegs auf einem abstrakten, gar im engeren Sinne philosophischen Interesse, sondern entspringt dem konkreten physischen Leiden der Menschen: Maß aller Erkenntnis ist, »was den Subjekten objektiv als ihr Leiden widerfährt« (ND, 172). Eben diese Inversion der klassischen Metaphysik liefert erst den systematischen Begründungszusammenhang für Adornos spezifisch negative Dialektik − und sorgt für ihren unversöhnlichen Bruch mit jedem traditionellen Verständnis. Die Wahrnehmung einer »dualistischen Reflexionsphilosophie«14 etwa übersieht, dass für Adorno Dialektik gar keine Frage formaler Logik, also der Nicht-Übereinstimmung von Subjekt-Aussagen darstellt, sondern das Resultat einer objektiven Widersprüchlichkeit der Sachen selbst, die der identifizierende Begriff stets zu Unrecht schlichtet.15 Der Widerspruch verliert seinen abstrakt-theoretischen Charakter und verschmilzt mit der Dialektik zu einer performativen Struktur, wie Adorno sie mit dem Muster »Dialektik als Verfahren« zu beschreiben versucht hat: »Widerspruch in der Realität, ist sie Widerspruch gegen diese« (ND, 148).
Wenn der Widerspruch enthüllt, was an der Sache selbst unversöhnt ist, und nicht etwa formale Logik, sondern die Sache selbst zum Widerspruch führt,16 dann steht der Widerspruch für Adorno nicht nur materiell, als nicht-identischer Rest dem Denken per se unversöhnlich gegenüber. Der Widerspruch ist für ihn vielmehr das physische Leiden der Menschen, das ganz praktisch-somatisch alle überhaupt möglichen abstrakten Sinnstiftungsverfahren und -versprechen de-legitimiert:17 »Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte« (ND 203).
Die apodiktische Gewissheit, mit der Adorno fast schon trotzig immer wieder die Unwahrheit aller begrifflich erzeugten Identität behauptet, besitzt ihre Grundlage in dem begrifflich nicht aufzuhebenden Zusammenhang zwischen physischem Leiden und Nicht-Identität: Ein leidender Leib ist nicht identisch. Diese Einsicht, in der, so Adorno, das »somatische Moment« erkenntnistheoretisch »nachzittert« (ND, 202 f.), initiiert das Projekt einer negativen Dialektik, die der Theorie nicht wiederum Theorie entgegensetzt, sondern das konkrete Phänomen des einzelnen Menschen, der gegen sich selbst denkt, ohne sich preiszugeben. So lautet schließlich die von Adorno im Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit vorgeschlagene »Definition von Dialektik« (ND, 144). Das »Denken gegen sich selbst, ohne sich preiszugeben«, dem Adorno an anderer Stelle einen »handgreiflichen« (ND, 358) Charakter zuschreibt, reagiert auf den Sturz der Metaphysik, indem es unmittelbar auf die buchstäbliche Bedeutung des Materialismus führt, auf Trieb, Natur und Körper, die materiellen Vorgänge des Lebens als Grundlagen und objektive Bedingungen für das Denken. Die brutale Gewalt der Selbsterhaltung, Sexualität, Tod und Verwesung sind dem Denken in Gestalt der Affekte Lust und Leiden präsent und führen notwendig zur Infragestellung eines Sinns des Lebens, nach dem ein Leben, das Sinn hätte, gar nicht fragte (ND, 369).
Indem der Mensch gegen sich als Denkenden denkt, als sinnstiftendes Subjekt, gibt er sich eben nicht preis, sondern denkt zugleich für sich als Seienden, als Nichtidentischen, als leidendes Objekt. Mit diesem eminent subjektivitätskritischen Gehalt führt das Denken gegen sich selbst auf den »Vorrang des Objekts« (ND, 184 ff.), der aber nicht etwa bloß die idealistische Überzeugung von einem Primat des Subjekts ersetzt, sondern gerade auf ein »Mehr« an Subjekt hin errichtet ist, denn er verlangt nach einem empirischen Subjekt, das ihm korrespondiert.18
Mit seinem Beharren auf dem empirischen Subjekt als Einspruchsinstanz gegen die abstrakte Identität eines transzendentalen Subjekts hat Adorno zugleich die Perspektive auf Geschichte und Gesellschaft verschoben, erkennt er doch nicht abstrakten Wahrheitsansprüchen, sondern ökonomischen Produktivkräften den Primat bei Identitäts-Herstellungs-Prozessen zu: »Gesellschaft ist vor dem Subjekt. Daß es sich verkennt als vor der Gesellschaft Seiendes, ist seine notwendige Täuschung und sagt bloß Negatives über die Gesellschaft« (ND, 132). Erst wenn keinem Menschen mehr ein lebendiger Teil seiner Arbeit vorenthalten würde, erst dann wäre rationale Identität erreicht und die Gesellschaft über bloß identifizierendes Denken hinausgelangt (vgl. ND, 150).
In diesen Passagen der Negativen Dialektik klingt ein frühes Motiv Adornos nach, hatte dieser doch schon Mitte der 1930er Jahre Walter Benjamin darin zugestimmt, dass in der Nützlichkeit der Dinge ihr Fluch und im Warenfetisch die praktisch gewordene Gestalt begrifflicher Identität zu sehen ist.19 In dieser Traditionslinie hält Adorno dreißig Jahre später fest, dass der Tausch falsches Bewusstsein schafft (ND, 190), denn zum einen funktioniert der Tausch als höchst reales gesellschaftliches Modell des abstrakten Identifikationsprinzips, so dass die Welt tatsächlich identisch ist (ND, 149). Weil zum anderen aber über den Tausch auf dem Markt das natürliche Recht des Stärkeren im Konkurrenzprinzip vergesellschaftet wird, kumuliert zugleich im Warencharakter nichts anderes als »vermittelte Herrschaft von Menschen über Menschen« (ND, 101).
Dem Eindruck, Adorno habe sich hier ganz ohne Not ein vulgärmaterialistisches sacrificium intellectus zu Schulden kommen lassen, indem er zentrale Gehalte der okzidentalen Philosophiegeschichte