Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37. Thomas Jung
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Wenn aber Auschwitz belegt, dass lediglich die Zugehörigkeit zur biologischen Gattung den Menschen verlässlich zum Menschen qualifiziert, dann verliert zugleich die Vorstellung einer ethischen Grenze ihren Sinn.58 Diesen paradoxen Zusammenhang verdeutlicht für Agamben das Phänomen des »Muselmanns«59, dessen ausführliche Analyse ihn zu der These führt, dass eine neue Ethik nach Auschwitz von der Unmöglichkeit einer Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch auszugehen hat.60 Indem nach dem Muster der »Einschreibung einer toten Zone in das Leben und einer lebendigen Zone in den Tod«61 in der Gestalt des Muselmanns der Nicht-Mensch als Mensch auftritt, wird das Menschliche des Menschen selbst in Frage gestellt. Schon in Homo sacer hatte Agamben diese Einsicht präsentiert: Eben weil in den Konzentrationslagern »die Juden […], ganz Hitlers Ankündigung gemäß, ›wie Läuse‹, das heißt als nacktes Leben vernichtet worden sind«, scheidet mit der Heiligkeit von Tod und Leben die traditionell angenommene Grundlage der Ethik als Fluchtlinie einer Bewertung aus, so dass zugleich der traditionelle Bereich der Ethik zwischen Religion und Recht entwertet und durch die Biopolitik ersetzt worden ist.62
Was somit für Agamben »von Auschwitz bleibt«, ist seine eigene Homosacer-These, führt doch ein Abstreifen vermeintlich verfehlter Projektionen vom Kern der Ethik in letzter Konsequenz auf die Einsicht, dass nichts anderes als das nackte, dem Tod ausgesetzte Leben das ursprüngliche politische Element ist.63 Schon im ersten Homo-sacer-Buch hat Agamben festgehalten, dass der Muselmann der Homo sacer ist, und die Unschärfe (s)einer angemessenen Wahrnehmung als Homo sacer auf eine unangemessene moralische Überblendung mit einem Opferstatus zurückgeführt, die zugleich verdeckt, dass »wir alle virtuell homines sacri sind.«64
Dieser Schlüsselsatz bildet den Ausgangspunkt für Agambens Herleitung seiner These vom Lager als biopolitischem Paradigma und nómos der Moderne.65 Die Schlüssigkeit von Agambens These einer »inneren Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus«66 sowie seiner Argumentation für eine nicht historisch-spezifische, sondern strukturelle Lesart der nationalsozialistischen Lager67 muss an dieser Stelle nicht weiter beurteilt werden.68 Stattdessen ist zu der Generalisierung der Homo-sacer-Situation zurückzukehren, auf die Agambens neue Ethik führt. Aufgrund seiner Privilegierung einer strukturellen gegenüber einer historischen Perspektive ist diese für ihn keineswegs gleichbedeutend mit einer Relativierung von Auschwitz. So ist Auschwitz Todeslager, doch »zuvor noch« Ort eines nicht gedachten Experiments, bei dem Mensch und Nicht-Mensch zusammenfallen.69 Entscheidend ist dabei aber gar nicht die nicht neue Erfahrung, dass das Leben kein Leben mehr ist, sondern die wirklich neue Erfahrung, dass der Tod kein Tod ist.70
Mit dieser Einsicht stellt sich Agamben zunächst einmal ausdrücklich in einen Traditionszusammenhang mit Martin Heideggers Bremer Vorträgen von 1949.71 Heidegger hat bekanntlich vier Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus den millionenfachen Judenmord in den Konzentrationslagern nüchtern als historische Tatsache erwähnt und anstelle einer moralischen Wertung den entscheidenden Akzent darauf gelegt, dass das »Wesen des Todes« diesen Opfern nicht zukomme, da sie eben nicht als Menschen, d. h. in bewusster Konfrontation mit ihrem Tod, gestorben seien.72
Auch den von Heidegger geprägten Terminus einer »Fabrikation von Leichen«73 führt Agamben zunächst als Stütze seiner eigenen These an, nach der die traditionelle Ethik im Umgang mit Auschwitz versagen muss, da in den Konzentrationslagern eben keine Menschen, sondern bereits entmenschte Wesen gestorben seien.74 Bei der Frage der Ursache für die Entmenschlichung widerspricht Agamben dann aber Heidegger: Für diesen hat das Verstellt-Sein der existenziellen Erfahrung eines »Seins zum Tode« dafür gesorgt, dass in Auschwitz nicht gestorben, sondern lediglich umgekommen worden sei. Agamben sieht stattdessen Auschwitz aus der Erfahrung des Todes generell ausgeschlossen, weil für ihn der Ausfall der Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sterben gleichbedeutend mit dem Verlust der Grundlage für diejenige traditionelle Ethik ist, die auch noch Heideggers Diagnose leitet.75
Agambens Argumentation für eine Ersetzung der traditionell moralischen durch eine neue biopolitische Begründung der Ethik bezieht aus dieser Revision Heideggers auf eine durchaus nachvollziehbare Weise ihre philosophiegeschichtliche Legitimation. Weniger nachvollziehbar erscheint hingegen Agambens überraschender Rekurs auf Adorno als Beleg für die »Unfähigkeit der Vernunft« im Umgang mit Auschwitz, wird doch dessen Position, zumal seine eigene Ethik, schon grob verfehlt, wenn Agamben vermutet, Adorno hätte Heideggers Überlegungen zur »Fabrikation von Leichen« wohl zugestimmt.76
Nun hat Adorno zwar festgehalten, dass »in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar«, eben diesen Umstand aber doch als Bestätigung für das »Philosophem von der reinen Identität als dem Tod« (ND, 355) bezeichnet und damit als letztgültige Bekräftigung seiner ethisch fundierten entschiedenen Identitätskritik gefasst. So kann Agambens Auffassung nur irritierend erscheinen; gegen sie spricht schon das von Hassan Givsan aufgewiesene apologetische und revisionistische Moment, das Heideggers Formulierung im historischen Kontext unabweislich zukommt, da sie die Bedeutung persönlicher Schuld und Verantwortung herunterspielt.77 Heideggers Fabrikations-These leistet schließlich eine virtuelle Suspendierung der realen Taten und Täter, indem sie das reale Geschehen des Holocaust in den vermeintlich »höheren« Zusammenhang eines »Seins-Geschicks« einordnet. Ist aber das Böse als »vom Sein geschickt« zu betrachten, sind die Menschen bloß »Werkzeuge des Sich-ins-Werk-setzens der Wahrheit des Seins. So gibt es keine ›Schuld‹ und kein ›Entschuldigen‹.«78
Eben dieses Motiv hat auch Adorno bereits kritisch gegen Heidegger in Stellung gebracht:79 Indem dessen Geschichtsauffassung unbesehen dem jeweils geschichtlich Mächtigen »Seinsmächtigkeit« attestiert, lässt sie sich zugleich als Versuch lesen, »die Unterordnung unter historische Situationen zu rechtfertigen, als werde sie vom Sein selbst geboten« (ND, 135). Gerade diejenige grundsätzliche Abwertung der konkreten historischen Wirklichkeit gegenüber der Abstraktion des Seins, die Adorno hier bei Heidegger ausmacht, findet sich ungeachtet aller Abgrenzungen auch bei Agamben, der den millionenfachen Massenmord schließlich nicht als »Vollzug eines Todesurteils« bezeichnet wissen will, sondern als »Verwirklichung einer schieren ›Tötbarkeit‹, die der Bedingung des Juden als solcher inhärent ist.«80 Die Holocaust-Darstellung in Was von Auschwitz bleibt ist ungeachtet all ihrer Ausführlichkeit insgesamt sublimer und abstrakter als in der Negativen Dialektik. Bei Adorno brüllt der Gemarterte (vgl. ND, 355); bei Agamben herrscht das Schweigen der Muselmänner.81
IV.
Adornos bescheidenes Gegenprogramm zum unabweislich in Herrschaft verstrickten Identitätsanspruch, die Rettung des Nichtidentischen durch die Hinwendung auf das Somatische des leidenden Leibs, ist sicher der Biopolitik näher als der traditionellen akademischen Philosophie. Eine Kompatibilität zum biopolitischen Diskursraum wird beispielsweise unübersehbar, wenn Adorno das zentrale Problem bei einer Erfassung des Stofflichen, des materiellen Moments der Menschen, in der gefährlichen Tendenz ausmacht, dass der Mensch um seiner erfassten Nichtigkeit willen zum Objekt von Beherrschung herabgesetzt wird.82 Zugleich wird allerdings auch eine strukturelle Unvereinbarkeit mit der biopolitischen Diskurspraxis daran deutlich, dass Adorno die von ihm selbst diagnostizierte Tendenz nicht etwa positivistisch, und damit wertfrei, wahrnimmt, sondern nach dem Grundmuster kritischer Gesellschaftstheorie aus der Konfrontation einer schlechten konkreten Wirklichkeit mit besseren Möglichkeiten die Hoffnung auf Veränderung ableitet.83
Adornos Ansatz entzieht