Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37. Thomas Jung

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Erde […] und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. […] Siehe, ich mache alles neu!« (20,1-59).

       2.4 Säkularisierung der messianischen Eschatologie bei Walter Benjamin

      Auf den ersten Blick lässt sich die Vorstellung von Auferstehung und Sieg über den Tod nicht mehr säkularisieren. Tatsächlich aber ist eben dies in Benjamins Geschichtsdenken unter den Begriffen der Rettung, des Eingedenkens und der Aktualisierung (Vergegenwärtigung) geschehen. Diese Transformation der Auferstehungshoffnung ins Historische hat auf die Stellung zum Messianischen insbesondere bei Adorno einen unübersehbaren Einfluss, wenn sie auch keineswegs unmittelbar übernommen wird. Für Benjamin ist in seiner materialistischen Phase der messianische Begriff der Erlösung von dem historischen der Befreiung nicht zu unterscheiden. Die klassenlose Gesellschaft, um die der historisch-revolutionäre Kampf geführt wird, ist eine »Welt allseitiger und integraler Aktualität.«22 In ihr gibt es universale Erinnerung oder vielmehr ein Eingedenken, in dem das Vergangene »zitiert«, vollzogen und so vergegenwärtigt und in diesem Sinne auch verlebendigt wird. Das bringt die dritte These über den Begriff der Geschichte zum Ausdruck:

      »Der Chronist, welcher die Ereignisse hergezählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit die Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.«23

      Im Unterschied zum eschatologischen Vergessen des Alten ist der Stand der Erlösung für Benjamin eine historische Existenz: »Die ewige Lampe ist ein Bild echter historischer Existenz. Sie ist das Bild der erlösten Menschheit – der Flamme, die am jüngsten Tag entzündet wird und ihre Nahrung an allem findet, was sich jemals unter Menschen begeben hat.«24

      Natürlich liegt der Einwand nahe, dass auch eine solche historische Transformation der Auferstehungshoffnung die Toten nicht wirklich lebendig macht und die eschatologische Vorstellung sich somit nicht ohne Rest säkularisieren lässt. Während wir bei der Utopie des Friedens wenigstens denken können, dass ihre Verwirklichung das Resultat menschlicher Anstrengung ist, und wir einzelne Schritte angeben können, die uns diesem Ziel vielleicht näher bringen, kann dies für die Hoffnung gegen die Endgültigkeit des Todes nicht gelingen. Wir müssen also damit rechnen, dass sich an die Gestalt des Messias eschatologische Hoffnungen knüpfen, die sich nicht ohne Rest säkularisieren lassen, ohne darum an Berechtigung und Bedeutung zu verlieren.

       2.5 Die Gestalt des Messias, Art und Umstände seines Eingreifens

      Auch was die Gestalt des Messias und die Weise seines Auftretens betrifft, lassen sich der biblischen Tradition Bestimmungen entnehmen, die sich als messianische Motive bei Benjamin (sowie bei Adorno und Horkheimer) wiederfinden lassen. Der Ausdruck »Messias« leitet sich aus dem Partizip Perfekt des hebräischen Worts für »Salben« ab. Der Gesalbte ist ursprünglich König, Priester oder Prophet, die Salbung selbst Ausweis einer göttlichen Legitimation. Zum Verheißenen und Erwarteten wird der Messias erst unter dem Eindruck der politischen Katastrophen, denen die Nachfolgestaaten des Reichs Davids ausgesetzt waren. Ein restauratives Moment in den Verheißungen der Propheten wird darin deutlich, dass der Messias aus dem Hause Davids stammen soll.25 Dabei ist die Rolle eines Messias in den Verheißungen der Propheten keineswegs zentral. Was sich ankündigt, ist der Tag des Herrn, der vor allem ein Tag des Gerichts und der Strafe ist. Erst im zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr., übrigens im Zusammenhang mit einer Ausweitung apokalyptischer Erwartung, gewinnt die Hoffnung auf den Messias als gottgesandten Menschensohn – sei er Priester, König oder Prophet – an Bedeutung. Wie die Resonanz der Taufpredigten Johannes des Täufers zeigt, hat die messianische Erwartung im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung einen hohen Grad der Erregung und Verbreitung erreicht.

      Die Vorstellung des Messias als einzelner Person ist einer Säkularisierung eigentlich nicht zugänglich. Wo sie aus ihrem theologischen Kontext gelöst und aufrechterhalten wird, verkommt sie zu einer irrationalen Führerideologie, die mit den unklaren Sehnsüchten der Massen spielt. Andererseits muss eine Kollektivierung der Messiasvorstellung nicht ohne weiteres ihre Verweltlichung bedeuten. Für Hermann Cohen ist – kantianisch, aber abweichend von der dem Judentum wenig gewogenen Bibellektüre Kants – der Messias das »Symbol« der zukünftigen, im Glauben an den einen Gott vereinten Menschheit: »[…] die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit, das ist der Inhalt der Messiasidee«26. Säkularisiert ist dieser Gedanke in Erich Fromms Interpretation der prophetischen Verheißung, der zufolge der Messias »ein Symbol der eigenen Anstrengung« ist.27

      Ebenfalls kollektiviert und säkularisiert ist die Messiasgestalt in Benjamins Vorstellung von der Praxis des revolutionären Proletariats oder allgemeiner: vom »Subjekt der Geschichte«, welches »die kämpfende unterdrückte Klasse in ihrer exponiertesten Situation« ist.28 Dem Proletariat sei eine »schwache messianische Kraft mitgegeben«29 – und ebenso dem Historiker, der das Bild der Vergangenheit festzuhalten und zu entfalten sucht, das im Augenblick der Gefahr und der revolutionären Aktion aufblitzt. Die Messianität des Subjekts der Geschichte – der geschichtlichen Tat sowohl wie der ihr zugehörigen Geschichtsschreibung – ist also zunächst definiert durch die Aufgabe, Vergangenes für das universale Eingedenken zu retten. Es gilt, ein unwiederbringliches Bild festzuhalten, »das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.«30 Die Verwendung der religiösen Termini ist in Benjamins eigener Reflexion eine »Indienstnahme« der Theologie für die Praxis und Theorie der sozialen Revolution. »Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muß sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst.«31 Die Selbstinterpretation in theologischen Begriffen – und deren Instrumentalisierung ist schon ihre Verweltlichung – kommt der revolutionären Sache in Benjamins Augen vor allem deshalb zugute, weil Hass und Opferwillen »sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Bild der befreiten Enkel«32 nähren.

      Auch das Auftreten des Messias und seine Begleitumstände können ein säkulares Denken der Befreiung inspirieren. Da ist zunächst das Beieinander von Unheil und Heil wie noch in Hölderlins Patmos-Hymne: »wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.« In der Bibel sind Gefahr und Rettung das Wirken Gottes. In einer säkularen Betrachtung gibt es für das Katastrophische zunächst zwei Möglichkeiten: Es ist entweder Manifestation der durch die Zivilisation unterdrückten finsteren Natur des Menschen oder eine Reaktion auf die Einschränkungen, die Zivilisation der menschlichen Natur überhaupt auferlegt, also eine innerhistorische Kraft, kein Ausbruch von unten. Möglicherweise können diese beiden Modelle auch ergänzt und kombiniert werden, wichtiger jedoch ist, dass es eine weitere Möglichkeit der Säkularisierung gibt, nämlich die strikte Veralltäglichung des Katastrophalen, wie sie von Walter Benjamin vollzogen wird: Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe – natürlich nicht für die jeunesse doreé, sondern für die im Dunkeln.33 Angesichts dieser Alltäglichkeit des Katastrophischen, die im Ablauf der Zeit Trümmer auf Trümmer häuft, kann der wahre Fortschritt nur darin bestehen, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.«34 Diese Zeitvorstellung ist in der Tat »messianisch«, denn auch »der Tag des Herrn« setzt ein Ende, bricht eine historische Dauer ab, ist nicht das immanente Ziel einer Entwicklung. In der Metapher des Sprengens aber kommt die Immanenz der befreienden Kraft zum Ausdruck.

      Die Vorstellung, dass das Anwachsen und die Vollendung des Negativen das Heil, die Erlösung, fördert oder sein Nahen anzeigt oder zumindest sein Wesen verdeutlicht, gehört zu den unverkennbar messianischen Motiven auch in der Philosophie von Adorno und Horkheimer. Es ist dann auch nur konsequent, wenn eine wirkliche Veränderung nur noch von dem Augenblick erwartet wird, für den es keine Vorbereitung gibt, der also schon der nächste sein kann.35 Der Minima Moralia zufolge schließt »die vollendete

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