Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37. Thomas Jung

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ich den Völkern reine Lippen geben, daß sie alle des Herrn Namen anrufen sollen und ihm einträchtig dienen.« Hermann Cohen kommentiert: »Die Völker haben nunmehr eine Sprache zur Verehrung des Einen Gottes.«69 Auch für Benjamin war die messianische Welt charakterisiert durch eine universale Sprache, in der die rettende Vergegenwärtigung besteht.70

      4. Messianische Motive in der Dialektik der Aufklärung und im Spätwerk Max Horkheimers

      Unverkennbare Zeugnisse des Wirkens messianischer Motive finden sich in Horkheimers Werken aus den 1930er Jahren, soweit ich sehe, nicht. Bei Adorno, der sich schon an Benjamin anschloss, als dieser noch ohne materialistische Vorbehalte Theologie betrieb, verhält sich dies anders. Deshalb mag man vermuten, dass sich die messianischen Motive der Dialektik der Aufklärung vor allem Adorno verdanken. Diese Annahme wird gestützt durch Horkheimers spätere Auskunft, dass der Messianismus für ihn selbst, im Unterschied etwa zu Ernst Bloch, nicht »bestimmend gewesen«71 ist. Allerdings konvergieren einige der eindrucksvollsten Stellen, an denen die Dialektik der Aufklärung für messianische Motive zeugt, mit einem für Horkheimer von früh auf wichtigen Gedanken. Es handelt sich um das messianische Motiv des Naturfriedens und den Gedanken einer Solidarität mit der leidenden Natur.

      Das Eingedenken der Natur im Subjekt, das die Dialektik der Aufklärung fordert und vollzieht, schärft den Blick für den »Drang des Daseins nach seinem Frieden«72. Erkennbar wird »die unendliche Geduld, der nie erlöschende zarte Trieb der Kreatur nach Ausdruck und Licht, der die Gewalt der schöpferischen Entwicklung in ihr selbst zu befrieden scheint«73. Noch in der Qual der gefolterten Leiber erscheint als in ihrer Verneinung die »Freiheit als Bestimmung der Materie«74. An Leid und Tod in der Natur entzündet sich die messianische Phantasie, die Bilder produzierende Kraft des Denkens: »Die Anrufung der Sonne ist Götzendienst. Im Blick auf den in ihrer Glut verdorrten Baum erst lebt die Ahnung von der Majestät des Tags, der die Welt, die er bescheint, nicht zugleich versengen muss.«75

      Während das Motiv der Rettung in der Dialektik der Aufklärung – »der Drang, Vergangenes als Lebendiges zu erretten, anstatt als Stoff des Fortschritts zu benützen«76 – in den diskutierten Thesen Adornos weiter wirkt, tritt in Horkheimers spätesten Äußerungen eine Kritik des Atheismus in den Vordergrund. Die Dialektik der Aufklärung enthält, wenn auch eher versteckt, die These, dass »die Leugnung Gottes in sich den unaufhebbaren Widerspruch [enthält], sie negiert das Wissen selbst.«77 In den 1960er Jahren nimmt die Beschäftigung mit dem Gottesbegriff, bis dahin eher ein Nebenmotiv, bei Horkheimer einen verhältnismäßig breiten – man könnte auch sagen: einen unverhältnismäßigen – Raum ein. Er verweigert ein Bekenntnis zum Atheismus, weil sich über das Absolute überhaupt nichts aussagen lasse,78 und behauptet wie Adorno einen notwendigen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gottesbegriff. »Wahrheit als emphatische, menschlichen Irrtum überdauernde, läßt sich […] vom Theismus schlechthin nicht trennen.«79 Horkheimer formuliert unverschlüsselter als Adorno, aber auch unbekümmerter um mögliche Begründungen. Er meint, auch für die Marx’sche Kapitalismuskritik seien theologische Postulate aus logischen Gründen entscheidend, auch wenn dies Marx selbst nicht bewusst war.80

      Wichtiger als rein theoretisch bezogene Bezugspunkte sind freilich praktisch-moralische. Der Gottesgedanke sei unverzichtbar, weil er für uns die Verlassenheit und Bedürftigkeit der Menschen bewusst macht und so die Bedingung solidarischer Hilfe ist.81 Dieser Gedanke bekennt sich als eine Sehnsucht:

      »Gott als positives Dogma wirkt als trennendes Moment. Die Sehnsucht hingegen, daß die Welt mit all ihrem Grauen kein Letztes sei, vereint und verbindet alle Menschen, die sich mit dem Unrecht dieser Welt nicht abfinden wollen und können. Gott wird so zum Gegenstand der menschlichen Sehnsucht und Ehrung; er hört auf, Objekt des Wissens und Besitzes zu sein. Ein so verstandener Glaube gehört unabdingbar zu dem, was wir menschliche Kultur nennen.«82

      Es bleibt unklar, wie eine solche Sehnsucht Glauben sein kann, wenn sie nicht die Möglichkeit ihrer Erfüllung, und damit doch wohl den traditionellen Gottesbegriff, bejaht. Anderenfalls wird sie sich als Illusion erkennen und entweder resignieren oder ihre Energien transformieren. Eine Hoffnung, die keine – wenn auch in wiederkehrendem Zweifel sich bewährende – Möglichkeitsgewissheit hat, ist unmöglich.

      In der Sehnsucht nach dem Absoluten sollten sich nach Horkheimer alle vereinigen, »die den Schrecken der Vergangenheit nicht als endgültig betrachten wollen«83. Dieses Motiv war Horkheimer schon in den 1930er Jahren nicht unbekannt. Auch »seit dem Übergang der religiösen Sehnsucht in die bewußte gesellschaftliche Praxis« lässt sich »das Bild vollendeter Gerechtigkeit«, in dem selbst das vergangene Elende gutgemacht ist, nicht verscheuchen.84 Es gehört aber zu ihm »das zunehmende Bewusstsein der Vergeblichkeit«, jenes Bild ist »Schein«, »Illusion.« Im Unterschied zur Abgebrühtheit, die alles durchschaut und an alles sich anpasst, erkennt das kritische Bewusstsein Horkheimers in jener Illusion eine positive Wirkung. »In einer freiheitlichen Gesinnung bleibt jener Begriff des Unendlichen als Bewußtsein der Endgültigkeit des irdischen Geschehens und der unabänderlichen Verlassenheit des Menschen erhalten und bewahrt die Gesellschaft vor einem blöden Optimismus, vor dem Aufspreizen ihres eigenen Wissens als einer neuen Religion.«85

      Diese Position scheint mir auch nach 70 Jahren noch haltbar. Die religiöse Hoffnung ist vergangen, aber sie bleibt als Erinnerung und soll in dieser Form den Götzendienst jeder Art verhindern. Demgegenüber kann man die Überlegungen der 1960er Jahre nur als eine Theologisierung von Horkheimers Denken bezeichnen. Der Theismus habe »eine neue Aktualität gewonnen.«86 Sie ergibt sich aus der Kritik der autonomen Moral. Der kategorische Imperativ sei durch die Geschichte nicht bestätigt worden87 – als ob er auf eine solche Bestätigung angewiesen sein könnte. Horkheimer ignoriert hier Kants Unterscheidung von technischer und moralisch praktischer Vernunft und meint, dass Vernunft nicht notwendig die Achtung vor dem Menschen als Selbstzweck, sondern ebenso das Gegenteil gebieten könnte.88 Ein ähnlicher Gedanke war schon in der Dialektik der Aufklärung geäußert worden,89 nicht aber die Behauptung, dass zwischen theistischer Tradition und Überwindung der Selbstsucht eine notwendige Beziehung bestehe. Hatte Horkheimer 1936 noch von der »egoistischen Seelenverfassung der meisten Religiösen« gesprochen,90 so gilt ihm nunmehr, fast dreißig Jahre später, Atheismus als Synonym für Unmoral, auch wenn diese sich bei bloß konventionellen Christen findet.91 Er fällt hinter die aufklärerische Position von Kant zurück, dass der Glaube nicht zur Moral, sondern höchstenfalls durch Moral notwendig sei.

      Mit der Abgrenzung vom theologischen Dogmatismus sind solche Standpunkte schwer vereinbar. Horkheimers spätes Denken macht einen widersprüchlichen, im Grunde hilflosen Eindruck. Theismus ja, weil es ohne ihn keine Wahrheit und keine Moral gibt. Aber nein zur Gewissheit des Glaubens, weil sie dogmatisch sein muss und die Menschen trennt. Am äußersten Punkt wird Religiosität definiert als die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Aber in dieser Unbestimmtheit lässt sich keine notwendige Beziehung zu irgendeiner Form von Praxis mehr herstellen, und es bleibt unklar, was für die Theologie noch zu tun sei. Mir scheint noch die Theologisierung von Horkheimers spätem Denken als eine Schwundstufe revolutionärer Hoffnung verstehbar, die sich erst auf die messianische Plötzlichkeit der Befreiung und nun auf den utopischen Traum zurückgezogen hat, der von den Problemen der Verwirklichung, die nur umkämpft sein kann, abgelöst ist:

      »In kühnen Träumen scheint mir, es könnte einmal so werden, daß eine Art mit Theologie verbundener Gesinnung sich entfalte, in der die Menschen es als ihre wesentliche Aufgabe ansehen, zusammenzustehen, damit niemand mehr hungere, damit jeder ein anständiges Heim habe, damit auch in notleidenden Ländern keine Epidemien mehr herrschen. Die Menschen würden versuchen, ihre Probleme als endliche Wesen gemeinsam zu lösen und die Existenz nicht nur länger, sondern auch schöner zu machen. Ja, ich gehe sogar so weit, zu denken, daß sich die Solidarität schließlich sogar auf die anderen Kreaturen ausdehnen könnte.«92

      Welcher Art die Verbindung der Gesinnung mit der Theologie sein soll, bleibt offen. Schon die kantische Position, dass Religion durch Moral notwendig

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