Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37. Thomas Jung
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»So verstümmelt alle auch sind, in der Spanne eines Augenblicks könnten sie gewahr werden, daß die unter dem Zwang der Herrschaft durchrationalisierte Welt sie von der Selbsterhaltung entbinden könnte, die sie jetzt noch gegeneinander stellt. Der Terror, der der Vernunft nachhilft, ist zugleich das letzte Mittel, sie aufzuhalten, so nah ist die Wahrheit gekommen.«38
3. Messianische Motive bei Adorno
3.1 Motiv der Rettung; Auferstehungshoffnung und Transzendenz
Das messianische Motiv, das im philosophischen Denken Adornos im Mittelpunkt steht, ist das Motiv der Rettung. Sie sei »der innerste Impuls jeglichen Geistes«.39 Erstaunlicherweise zieht Adorno die säkularisierte Version dieses Motivs, wie es sich bei Benjamin findet, nicht in Betracht. Für ihn ist nicht mehr und nicht weniger gemeint als »leibhafte Auferstehung«, die ihm als Inhalt christlicher Dogmatik vor Augen steht.40 Angesichts der oben erwähnten theologiekritischen Voraussetzungen kann Adornos Position nur in Paradoxa gipfeln: »Wer an Gott glaubt, kann deshalb an ihn nicht glauben. Die Möglichkeit, für welche der göttliche Name steht, wird festgehalten von dem, der nicht glaubt.«41 Das gleicht von ferne dem Leitmotiv der Bloch’schen Religionsphilosophie, nach der nur ein Atheist ein guter Christ sein kann, aber eben nur von ferne. Denn bei Bloch wird der Gegensatz von Erlösung und göttlicher Herrschaft betont, während sich Adorno für einen Abbruch der Reflexion einsetzt: »Hoffnung auch nur zu denken, frevelt an ihr und arbeitet ihr entgegen.«42 Aus welchem anderen Grund aber sollte ihre Reflexion der eschatologisch gefassten Hoffnung entgegenarbeiten, als dass sie deren Grundlosigkeit zu Tage fördern könnte? Eine Hoffnung, die nicht mehr gedacht werden kann, hat jedoch keinen Inhalt mehr und verdient diesen Namen nicht. Eschatologische Hoffnung verdankt sich der Verheißung oder wenigstens einem Vernunftschluss, der auf Transzendentes – ein Anderes als diese Welt – geht. Wird weder das eine noch das andere geglaubt, kann sich jene Hoffnung nicht erhalten. Sie zieht sich zurück auf ein unbestimmtes Sehnen: »Keine Transzendenz ist übrig als die von Sehnsucht.«43 Aber die Sehnsucht beweist nicht, dass es das Ersehnte gibt. Was bleibt, ist eine wehmütige Erinnerung, die von der stets sich erneuernden Sehnsucht wach gehalten wird. Für sie kann allerdings gelten, dass ihr Fehlen das Menschliche um eine wichtige Dimension ärmer macht.
Das Denkverbot über die Hoffnung ist umso unverständlicher, als Adorno behauptet, dass Erkenntnis auf den Gedanken der Erlösung, Wahrheit auf den des Absoluten, Geist auf eschatologische Hoffnung angewiesen ist. Reklamiert wird »die Erfahrung, daß der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre.«44 Adorno setzt die Erfahrung dem Argument entgegen, aber metaphysische Erfahrung selbst, in der das Moment des Dabeiseins des individuellen Subjekts betont werden soll, ist notorisch unverlässlich.45 Deshalb ist es auch für Adorno nicht möglich, den Antinomien des Argumentierens durch die Berufung auf Erfahrung auszuweichen. Dass der Gedanke, wenn er sich lebendig halten will, in die Transzendenz der eschatologischen Hoffnung münden muss, wird in einer erkenntnistheoretischen Überlegung behauptet. Es ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der spezifischen Weise, in der Adorno Philosophie und Theologie verbindet, dass er dabei nicht, wie Kant und Bloch, von der praktischen Vernunft ausgeht, sondern wahrheitstheoretisch zu argumentieren sucht.46
3.2 Wahrheitsbegriff und eschatologische Hoffnung
Das zentrale Argument besagt, dass die Wahrheit dauern muss, um Wahrheit zu sein. Es bleibt allerdings unklar, wo hier die Beziehung zum individuellen Tod sein soll. Der Gedanke, »der Tod sei das schlechthin Letzte«, ist nach Adorno »unausdenkbar«. »Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken. Denn es ist ein Moment von Wahrheit, daß sie samt ihrem Zeitkern dauere«47. Nun lässt sich daraus, dass ein mit einem Zeitindex versehener empirischer Satz zu jedem Zeitpunkt, an dem er geäußert wird, gültig sein muss, sicher nicht schließen, dass er in alle Ewigkeit muss ausgesagt werden können. Dies würde bedeuten, dass jede relative Wahrheit Element eines absoluten Wissens sein muss, das an keinen Zeitindex mehr gebunden ist. Möglicherweise ist der Begriff eines absoluten Wissens notwendig, um die Relativität des menschlichen Wissens zu erkennen; daraus folgt aber nicht – so hatte schon die kantische Kritik der theoretischen Vernunft argumentiert – dass es das Subjekt dieses Wissens gäbe.
Jedoch bedeutet Adornos Argument vielleicht nicht mehr, als dass es für die Anstrengung der Erkenntnis notwendig ist, für jemanden zu schreiben, der, wenn die Mitwelt taub und die Nachwelt womöglich noch unzugänglicher wäre, nur ein »eingebildeter Zeuge«48 oder gar einzig der totgesagte Gott sein kann.49 Und das ist schwerlich völlig falsch: Denn jeder Versuch, etwas zu sagen, das nicht den gängigen Konventionen sich unterordnet, geht an die Grenzen der Sprache, enthält ein individuelles Moment, das nur missverstanden werden kann, und wendet sich so an einen imaginären, unbekannten Hörer. Der Gedanke einer so verstandenen Dauer ist freilich nicht mehr als die subjektive Bedingung dafür, die Anstrengung der Erkenntnisarbeit auf sich zu nehmen; in diesem Sinne kann der Satz verstanden werden, ohne Transzendenz würde sich Erkenntnis zum absolut Gleichgültigen.50
Allerdings ist noch völlig ungeklärt, warum dieser Gedanke der Transzendenz den Sieg über den Tod implizieren muss. Geschichtlich hat das Judentum Jahrhunderte lang den Begriff des transzendenten, ewigen und allwissenden Gottes gekannt, ohne die Überwindung des menschlichen Todes daran zu knüpfen. Und logisch gesehen fordert die Aufbewahrung eines endlichen Wissens im Absoluten nicht die Erhaltung seines Trägers, nicht einmal dann, wenn wir einen anderen Begriff von Wahrheit und Erkenntnis geltend machen als jenen objektiven, der alle Beziehung auf die subjektive Lebendigkeit des Erkennenden eliminieren möchte. Einen solchen Wahrheitsbegriff müssen wir bei Adorno voraussetzen; es ist der von Affinität im Unterschied zum klassischen der adaequatio.51 In ihm soll am Objekt, das den Vorrang hat, Nichtidentität hervortreten können, deren Organ im Erkennenden der begriffslose Teil am begrifflich identifizierenden Denken ist: mimetischer Ausdruck. Adornos Wahrheitsbegriff misst sich am »Äußersten, das dem Begriff entflieht«, nämlich an der sinnfernen Schicht des Somatischen als dem Schauplatz des Leidens. Alles andere als der Versuch, ihm Ausdruck zu verleihen, ist für Adorno »vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte.«52 Es ist demnach »das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, Bedingung aller Wahrheit.«53 Erst ein Denken, das in sich Drang, Bedürfnis, Verlangen wahrzunehmen vermag, beginnt unter Wahrheit den Ausdruck des Leidens zu verstehen; und erst wenn Wahrheit so verstanden wird, erweist sich Dauer als ihre notwendige Eigenschaft: Sie wird zum Eingedenken, das die Erinnerung an vergangenes Leid bewahren soll.
Auch in dieser Version ist das Beweisziel nicht erreicht. Es bleibt unklar, warum die Voraussetzungen, unter denen die Hoffnung des Eingedenkens säkularisiert werden musste, nicht mehr gelten sollen, wenn aus ihr ein Begriff mimetisch-expressiver Wahrheit entwickelt wird. Vor allem wäre zu bedenken, dass die Hoffnung des Eingedenkens, ob eschatologisch oder geschichtlich gefasst, eine Hoffnung einzig um der Vergangenheit willen ist. Dies bedeutet nicht, dass Hoffnung aus dem Vergangenen kommt, wie Adorno interpretiert,54 sondern dass wir nur für die Toten – die nicht mehr hoffen können – hoffen dürfen.55 Hoffnung für die eigene Person wäre als Ausgangspunkt egoistisch und würde vor allem die Aktualität der messianischen Befreiung negieren: Wenn jeder Augenblick die kleine Pforte sein kann, durch die der Messias kommt,56 brauchen wir uns um unsere Zukunft keine Gedanken zu machen.