Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37. Thomas Jung
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Indem bei Kant an die Stelle der biblischen Geschichten die Begriffe der Vernunft treten, werden Moral und Theologie aus einer ausschweifenden kirchlichen zu einer knappen philosophischen Angelegenheit. Nicht jede Verbegrifflichung ergibt, wie der kantische »Vernunftglaube« zeigt, eine Verweltlichung oder »Säkularisation«. Das freilich ist der Fall bei der Verwandlung von Hoffnungen, die sich mit der Gestalt eines Messias verbanden, in Zielbegriffe menschlich-geschichtlichen Handelns.
2. Messianismus und Benjamins Löschblatt
2.1 Theologiekritische Voraussetzungen und messianische Motive
»Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.«10 Diese Äußerung Adornos zeigt, dass bei ihm nicht nur die »Rationalisierung« der Religion, wie sie im Zeitalter der Aufklärung vollzogen wurde, historische Voraussetzung ist, sondern auch die ihr folgende Religionskritik von Autoren wie Feuerbach und Marx. Adorno sieht »keine andere Möglichkeit als äußerste Askese jeglichen Offenbarungsglauben gegenüber«11 und verwirft zugleich die Begriffsreligion Kants, die er freilich missversteht.12 Horkheimer erinnert an Schopenhauer, dem zufolge »Gläubige, die einen Weltschöpfer, gar einen gütigen, anbeten, […] irregeleitet« sind.13 Benjamin schließlich hat seiner theologiekritischen Haltung einen wunderbaren metaphorischen Ausdruck verliehen: »Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.«14
Von »Messianismus« in ursprünglicher Bedeutung dürfte unter dieser Voraussetzung eigentlich keine Rede mehr sein. Der Messias, der Gesalbte – griechisch Christos – ist nämlich, was immer er sonst sein möge, ein Auserwählter und Gottgesandter, ein Werkzeug des Herrn. Unter theologiekritischen Prämissen kann es nur »messianische Motive« geben, Motive also, die sich der Auseinandersetzung mit dieser religiösen Tradition verdanken, von ihr angeregt sind, sie aber auch den neuen gedanklichen Vorausetzungen gemäß verändern, ihnen anverwandeln. »Motive« werden dabei die messianischen Offenbarungen in einem genauen Sinn: Beweggründe des menschlichen Handelns, in dem allein, wenn irgend, sich jene Hoffnung verwirklichen können.
Der Gang vom Messianismus zu den messianischen Motiven ist ein Prozess der Säkularisation. Verweltlicht werden die Ziele durch rationale Begründung und die Mittel als menschliche Taten. Wer freilich Motive ausmachen will, die sich einer Säkularisierung von Vorstellungen über das Wirken des Messias verdanken, muss sich zunächst im Klaren darüber sein, dass es »den Messias« in der Religionsgeschichte nicht gibt. Zu unterscheiden sind zumindest der jüdische und der christliche Messianismus, wobei sich auch im Islam messianische Vorstellungen finden lassen.15 Selbst »innerhalb des Judentums wie innerhalb des Christentums [existieren] unterschiedliche Messias-Vorstellungen mit gänzlich verschiedenen Zeit-, Zwischenzeit-, Epochen-, Geschichts-, Reichs- und Weltvorstellungen nebeneinander […], und zwar schon in den Quelltexten der jeweiligen heiligen Schriften.«16 Wir beschränken uns hier auf biblische Texte,17 wobei sich im Hinblick auf unsere Absicht zwei Fragestellungen unterscheiden lassen. Die eine betrifft die Gestalt des Messias, sein Verhältnis zum historischen Geschehen und die Begleitumstände seines Auftretens. Die andere Fragestellung betrifft die Verheißungen, die sich an sein Auftreten knüpfen, die Bestimmungen des messianischen Zustands.
2.2 Das Werk des Messias: Gerechtigkeit und Friede
Diese Bestimmungen des messianischen Zustands lassen sich unter den Begriffen der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit und des Friedens zusammenfassen. Im messianischen Zustand gibt es keine Abgötterei und keinen Verstoß gegen die göttlichen Gebote. Es gibt somit keine Ungerechtigkeit, insbesondere keine Ausbeutung.18 Vom Friedensfürsten heißt es in Psalm 72: »Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen. […] er wird den Armen erretten, der um Hilfe schreit, und den Elenden, der keinen Helfer hat. […] Er wird sie aus Bedrückung und Frevel erlösen […].« Ein solcher durch Gerechtigkeit geschaffener sozialer Friede ist das erste messianische Motiv, dem sich eine säkulare, von theologischen Voraussetzungen unabhängige Form geben lässt.
Die Vorstellung des sozialen Friedens ist schon in den biblischen Verheißungen eingebettet in die Utopie eines Völkerfriedens. Die eindrucksvollste Stelle findet sich bei Micha, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts wirkte (sie ist von seinem Zeitgenossen, dem ersten Jesaja übernommen worden): Der Herr »wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben […]« (Micha 4, 3 f.). Bemerkenswert an solchen Visionen – man denke an Deuterojesaja 45, 22 f. und 49, 6 – ist ihre universalistische Dimension, die philosophisch vor allem von Hermann Cohen hervorgehoben wurde.19 Schließlich ist die Friedensutopie bei einigen Propheten auch auf die den Menschen umgebende Natur ausgedehnt: Da »werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben« (Jesaja 11, 1-9).
2.3 Messianismus und Eschatologie; Auferstehung
Der Friede in und mit der Natur ist das letzte Motiv, das in der neueren Philosophie verweltlicht wurde. Nicht schon in der Aufklärung, sondern erst unter dem Eindruck der mit der Industrialisierung unvorhersehbar gesteigerten Naturbeherrschung wird der Naturfriede zu einem Moment der Utopie, die in menschlicher Praxis wirklich werden muss. Es nimmt mit Tritojesaja eine eschatologische Form an: »Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird« (Jes. 65, 17). Die messianische Utopie tritt in Beziehung zur Vorstellung des Endes aller Tage, der letzten Dinge, so zum ersten Mal bei Deuterojesaja (51, 6), aus den letzten Jahren des babylonischen Exils.20 Vom zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis ins erste Jahrhundert n. Chr. wird die Eschatologie in einer weit verzweigten apokalyptischen Literatur ausgearbeitet, von der nur das Buch Daniel kanonisch wurde. Die Katastrophen, die als geschichtliche in Form sozialer Bedrückung und kriegerischer Eroberungen, Zerstörung und Verschleppung dem Kommen des Messias vorausgehen, erhalten in der Eschatologie eine kosmische Dimension. Ideengeschichtlich ist diese Weiterung auf den Einfluss der persischen Religion zurückzuführen, die den jüdischen Eliten im babylonischen Exil bekannt wurde. Die Vereinigung der Messias-Tradition mit der Eschatologie hat zu unterschiedlichen Konzeptionen geführt.21
Mit der Eschatologie verbindet sich ein Motiv, das für unsere Säkularisierungsproblematik von entscheidender Bedeutung ist: die Auferstehung der Toten und der Sieg über den Tod. Eine Schlüsselstelle findet sich im Buch Daniel aus der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts: »Zu jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, alle die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einem zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande« (Daniel, 12, 1 f.). Schließlich wird die Verheißung von der Wiederkehr Christi mit dem Gedanken der Auferstehung, des Totengerichts