Nataschas Winter. Susanne Scholl

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Nataschas Winter - Susanne Scholl

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sie gerne in die Hauptstadt gefahren. Jede hatte dort auf dem Markt ihren festen Standplatz. Da verkauften sie ihre Holzlöffel, Holzschatullen, Holzpuppen. Und nahmen Wurst, Zucker und Dosen mit Fisch mit zurück. Für das ganze Dorf. Einen Tag mit dem Zug, eine Stunde mit dem Bus und vier Kilometer zu Fuß durch den Wald, den voll gepackten Rucksack auf den Schultern.

      Heute fahren sie nur noch selten. Die Wurst, der Zucker, das Salz sind jetzt zu teuer. Und ihre Holzlöffel, Holzschatullen, Holzpuppen will keiner mehr. Die kaufen die Moskauer jetzt viel billiger in den Geschäften.

      Pelageja Iwanowna, die früher Lehrerin war, kann das erklären. Aber irgendwie will keine ihrer Nachbarinnen ihre Erklärungen hören.

      »Lass gut sein«, sagen sie freundlich und schalten das Fernsehgerät erst ein, wenn es Zeit für Maria, die Seifenoper aus Brasilien, ist. Dann machen es sich die Kinder, die gerade da sind, auf dem Ofen hinter den Blumentüchern bequem und die Alten auf den Sesseln und dem Bett. Und nichts kann sie davon abhalten, sich mit Maria aus Brasilien zu freuen und zu kränken. Auch Pelageja Iwanowna nicht.

      Deshalb besteht Pelageja Iwanowna darauf, Besuch von jenseits des Waldes bei sich zu Hause zu empfangen. Dort steht kein Fernsehapparat.

      Wenn Besuch da ist, holt Pelageja Iwanowna eingelegte Gurken und selbst gebackenes Brot hervor. Und erzählt von ihrem Mann, der – wie die anderen – tot ist; vom Sohn, der in der großen Stadt lebt und versprochen hat, das Holzhaus winterfest zu machen; von der Schule damals, als es immer hieß, das Dorf gehöre zur nahen Kolchose.

      Viel bemerkt haben sie nicht davon. Damals sind die Kühe genauso wie heute auch allein auf die Weide gegangen und wieder zurückgekommen. Die Pferde streunten genauso frei herum, und gegessen haben sie auch damals die Kartoffeln, die sie selbst angebaut haben, und die Pilze und Beeren aus dem Wald.

      Ein paar junge Männer sind wohl gefallen. Damals im Krieg gegen Hitlers Deutschland. Aber keiner ist weggeholt worden, als Stalin den Krieg im eigenen Land führte. Das Dorf war damals schon genauso vergessen, wie heute. Also hat sie auch die Geschichte mit dem großen Anfangsbuchstaben gnädig vergessen. Sie haben Pilze, Beeren und Kartoffeln gegessen, und ihre Kühe gemolken. Zuzeiten waren sie auch froh darüber, nicht zu wissen, was jenseits des Waldes vor sich geht.

      Ganz still, ganz unbemerkt sind sie alt geworden, Pelageja Iwanowna und ihre Nachbarinnen. Ganz still und unbemerkt ist das Geld, das sie von der Kolchose bekommen haben, immer weniger geworden. Irgendwann hat sich die Kolchose in Genossenschaft umbenannt, aber auch da haben sie keine Änderung bemerkt. Ganz still und fast unbemerkt sind die Jungen weggegangen und die Männer nach und nach weggestorben. Ganz allmählich haben sie aufgehört, die Holzlöffel, Holzschatullen und Holzpuppen zu bemalen.

      Pelageja Iwanowna hat nie Löffel oder Schatullen bemalt. Sie war die Lehrerin. Die Nachbarinnen, die beherrschten die Kunst der Holzmalerei. Jede von ihnen hat sie von ihrer Mutter gelernt. So wie die Männer vom Vater die Kunst gelernt haben, aus dem Holz der Birken Löffel, Schatullen und Puppen zu schnitzen. Die immer gleichen Formen mit der immer gleichen Bemalung. Nur die Frauen im Dorf konnten nach einem flüchtigen Blick sagen, aus welchem Haus welcher Löffel, welche Schatulle, welche Puppe kam.

      Jede Frau hat die Kunst an die Tochter weitergegeben, jeder Mann an den Sohn.

      Jetzt aber arbeiten die Söhne und Töchter in den Fabriken der Stadt und die Kunst, dem Löffel, der Schatulle oder der Puppe die eine oder die andere Blume mit der einen oder der anderen Farbe aufzumalen, wird nicht mehr weitervererbt.

      Die letzten Schatullen, Puppen und Löffel, die sie noch selbst bemalt haben, schmücken jetzt die Bretter vor den kleinen Fensterchen, so dass man, wenn man durch das Dorf spaziert, an vielen bunten, hölzernen Erinnerungsstücken vorbeigeht, die ganz langsam verblassen.

      Nur bei Pelageja Iwanowna stehen keine bunten Holzschatullen oder Puppen im Fenster. Und das tut ihr jetzt manchmal ein bisschen Leid. Aber eine von der Nachbarin als Geschenk annehmen, das würde die Lehrerin nie.

      »Na ja, früher, da war viel los hier«, sagt Pelageja Iwanowna, aber es klingt gar nicht traurig. »Seit zwanzig Jahren versprechen sie uns eine Straße bis hierher«, sagt Pelageja Iwanowna auch. Und auch das klingt nicht traurig. Wer will die Straße schon? Ein Krankenwagen wäre dann schneller zur Stelle, wenn eine der Alten ihn brauchen sollte – aber keine der Alten will den Krankenwagen.

      »Die Straße – die brächte dem Dorf viel«. Sagen die, die im Nachbardorf leben, direkt an der Hauptstraße.

      »Viel, was uns bisher erspart geblieben ist«, sagt Pelageja Iwanowna.

      Und die vier Kilometer durch den Wald, wenn im Dorf einmal der Zucker, das Salz, die Seife ausgegangen sind?

      »Wir haben ja Vorräte – einmal alle paar Monate kann man den Spaziergang schon machen«, sagen die Alten und zucken mit den Schultern.

      »Schön findet ihr es hier bei uns?«, fragt Pelageja Iwanowna die Besucher von jenseits des Waldes und zeigt dann ein bisschen geniert und amüsiert zugleich durch das kleine halb blinde Stubenfenster hinaus auf ihren Innenhof.

      Im Sommer, wenn der Regen ununterbrochen fällt, versinkt er im Morast. Im Winter, wenn Frost und Schnee kommen, wird er spiegelblank vom Eis. Und ganz hinten in der Ecke steht ein windschiefes Holzhäuschen mit einer ebenso windschiefen Tür.

      Auf das zeigt Pelageja Iwanowna, die frühere Lehrerin, geniert und amüsiert, wenn ihr die Besucher von jenseits des Waldes die Ruhe und die Schönheit der Landschaft rund um das Dorf vorloben.

      »Schön?«, fragt Pelageja Iwanowna und sucht eine Antwort. »Schön ist Maria aus Brasilien. Wir hier, wir sind nur weit weg von allem.«

      Wenn die Gäste von jenseits des Waldes nach ein paar Tagen wieder abreisen, gut verpackt gegen den Regen und mit einem Mann, der von den Frauen nüchtern gehalten wurde, damit er den Pferdewagen sicher durch die tiefen Wasserlachen im Wald kutschiert, steht Pelageja Iwanowna am Abhang.

      Mit ihr stehen die Nachbarinnen.

      Ein bisschen wehmütig werden sie, wenn wieder jemand weggeht, der wahrscheinlich nicht mehr zurückkommt. Ein bisschen verloren sehen sie aus, im Regen auf der Wiese.

      »Und gebt dem Kerl auf dem Wagen ja kein Geld! Sonst betrinkt er sich, bevor er das Pferd zurück gebracht hat«, ruft Pelageja Iwanowna, als der Wagen schon fast in den Wald eingetaucht ist, und winkt dann, bis sie ihn zwischen den Bäumen endgültig aus den Augen verliert.

      Noch hundert Kilometer bis Petersburg.

      Adlerauge und die Kartenleserin rumoren im Auto herum. Die aus Moskau mitgebrachten Kirschen sind längst aufgegessen, die Dosen mit den süßen Getränken leer.

      »Nicht wegschmeißen«, sagt Adlerauge. Schließlich stünden die weltweit bekannten Namen auf diesen speziellen, in Moskau gekauften Dosen in zyrillischen Buchstaben. Eine Erinnerung, die man nicht wegwerfen dürfe.

      Aber etwas von ihrer Trauer darüber, dass die Arbeit ihrer Mutter sie zwingt, das Land zu verlassen, in dem sie sich sechs Jahre lang irgendwie zu Hause gefühlt haben, ist Adlerauge und der Kartenleserin inzwischen abhanden gekommen. Vielleicht, weil die Fahrt schon so lange dauert, vielleicht, weil sie jetzt doch so etwas wie Neugierde empfinden angesichts einer Stadt, in der ich einmal gelebt habe und die sie selbst zum ersten Mal sehen werden.

      Sicherlich aber haben sie genug

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