Opak. Matthias Falke
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»Sie wollen die Zeit eben nicht nutzen, sondern lieber vertrödeln, sprich: totschlagen. Kennt jemand Joseph Brodsky? Russischer Autor des 20. Jahrhunderts. In seinem Theaterstück ›Marmor‹ geben zwei lebenslänglich Inhaftierte aufgrund einer Wette die Freiheit, die sie hätten erlangen können, für ein Röhrchen Schlaftabletten wieder her.«
»Sehr philosophisch.« Allmählich wich die Anstrengung von Theresas Zügen; nur ab und zu lief noch ein Zucken über ihr Gesicht oder verebbte eine reflexhafte Kontraktion in ihren Unterarmen. »Apropos, wo wart ihr gerade?«
»Ach, wir hatten einen Kursus in buddhistischer Logik, Wissenschaftstheorie und phänomenologischer Skepsis.«
»Also nichts Besonderes. Darling, hast du dir für heute Abend schon etwas überlegt?«
»Du hast abgenommen.«
»Diese virtuellen Kurse sind ein ziemlicher Stress.« Theresa strich ihre kupferfarbene Mähne nach vorne über die Stirn und drehte ihren verspannten Nacken heraus. Unter dem Druck von Carlssens Händen begann sie, wohlig zu grinsen. »Das Gehirn ist der größte Energieverbraucher. Was du in zwei, drei Stunden derartiger Konzentration verbrennst, könntest du mit reinem Muskeltraining am ganzen Tag nicht einholen.«
»Trotzdem solltest du dich nicht so verausgaben. Es ist höchst löblich, dass du die Flugphase nutzt und nicht wie Gus und Groenewold zwei Monate pennen gehst.«
»Noch ein paar Tage. Wenn ich das gesamte virtuelle Programm durchhabe, brauche ich nur ein paar Flugstunden unter Echtbedingungen, sowie wir wieder auf der Leibniz sind, dann habe ich den Schein für sämtliche Shuttles und Drohnen. Hast du Angst, dass ich dir deinen Rang als Commander der Dorset streitig mache?«
»Gewiss nicht. Es gibt genug andere Explorer, die sie dir unterstellen können. Und ich wäre der Letzte, der ein eigenes Kommando für dich nicht unterstützte. Aber für den Saturn-Swing-by hätte ich gerne eine ausgeschlafene Erste Offizierin. Du solltest spätestens zwei Tage vorher dein Training beenden oder unterbrechen, damit wir die Kontaktphase vorbereiten und die Vorfeldkorrekturen vornehmen können.«
»Aye, aye, Sir!«
»Das ist ein Befehl.«
Carlssen hatte die linke Hand auf Theresas Rückgrat gestützt und zog nun heftig an ihrem linken Arm, den sie rückwärts herumkugelte. Mehrmaliges lautes Knacken war aus dem Schulterbereich der Pilotin zu vernehmen, begleitet von wollüstigem Winseln. Nach der Beendigung der Massage drehte sie sich zwischen seinen Schenkeln um und zog ihn zu sich herab. Während er eine Spur silbriger Küsse von ihrer Brust zu ihrem entspannten Schlüsselbein legte, grübelte Carlssen darüber nach, wie sie es fertiggebracht hatte, die Automatik so zu programmieren, dass sie im richtigen Augenblick das Licht herunterdimmte. Und tatsächlich: Hinterher ging es leise wieder an, nahm aber nur bis zu einem schwach summenden Blau zu, das sich kühl über ihre salzige Erschöpfung legte.
»Worüber habt ihr gesprochen?«
»Über das Opak. Silesio hält unsere wissenschaftlichen Methoden nicht für angemessen. Wie wir an das Objekt herangehen sollen, hat er aber auch nicht verraten.«
»Er ist und bleibt ein skeptischer Fantast.«
»Eine kritische Intelligenz, die sich einige Vorbehalte gegenüber der offiziellen Selbstherrlichkeit erlaubt, kann nicht schaden. Dabei weiß er das Schlimmste gar nicht.«
»Das topsecret ist und nur den Commander was angeht. Aus purem Mitteilungsbedürfnis wirst du es mir trotzdem sagen und dich dann vor dem Militärgericht darauf rausreden, ich hätte dich verführt.«
»Als meine Stellvertreterin und Erste Offizierin darf ich dich ins Vertrauen ziehen, wann immer ich das für richtig halte.«
»Dann zieh mal los.«
»Die Geheimhaltung wurde durchbrochen. Vermutlich haben ein paar Hobbyastronomen das Objekt entdeckt oder irgendwelche Hacker haben unseren Funkverkehr geknackt. Jedenfalls wurden ein paar Leute von der Presse hellhörig. Die Anfragen, die an die Zentrale Überwachungsstelle auf Luna III ergingen, wurden auf stümperhafte Weise so betont harmlos abgefertigt, dass die Leute erst recht Verdacht schöpften. Als dann herauskam, dass ein Explorer der Dorset-Klasse unterwegs ist, war das Geschrei groß. Die offiziellen Kommuniqués, die abwiegeln wollten und verlautbarten, man wisse noch nicht genau, um was es sich bei dem Objekt handle, lösten eine weltweite Panik aus. Ich möchte nur mal wissen, wer da in der Öffentlichkeitsabteilung sitzt. Das nachgeschobene Harmlostun nach dem Motto, es sei die routinemäßige Untersuchung eines neu entdeckten Kometenkerns, vermochte niemanden mehr zu überzeugen. Jedenfalls stehen wir unter einem gewissen Erwartungs- und Erfolgsdruck. Alles, was wir herausfinden, wird von der Public-Relations-Stelle auf Luna – nun, sagen wir – aufbereitet werden; darüber hinaus legt man Wert darauf, dass wir möglichst bald etwas Verwendbares herausbekommen.«
Sechs Wochen nach dem Abkoppeln von der Leibniz gerieten wir ins Schwerefeld des Saturn. Der silberblaue Ringplanet füllte die Panoramascheiben am Bug der Dorset aus und wir genossen stundenlang den Anblick, den die weit gereisten alten Hasen Silesio und Carlssen als den schönsten unseres Sonnensystems bezeichneten. Da die Position des Opak weiterhin nur näherungsweise zu bestimmen war und sich seine Bahn entsprechend nur äußerst vage vorausberechnen ließ, wurden einige Kurskorrekturen nötig, die die Erste Offizierin unter der Aufsicht des Kommandanten manuell, innerhalb der vorgegebenen Entscheidungsfenster der Automatik durchführte. Die neu entworfene Kurve führte in einer weiten Hyperbel durch das Saturnsystem und nutzte eine zufällige Konstellation der Monde Titan und Hyperion zu einer dreifachen gekrümmten Flugbahn, die den Swing-by-Effekt noch verstärkte. Nachdem wir mit über einer Million Kilometer pro Stunde die beiden erzgrauen Trabanten passiert und dabei auf über 1,1 ‰ c beschleunigt hatten, steuerte Theresa das Schiff auf eine tangentiale Bahn, die die Ringe des mächtigen Planeten in ihren äußersten fadendünnen Ausläufern berührte. Commander Carlssen hatte alle Schotten schließen lassen und das Vorwarnsystem der Automatik auf höchste Sensibilität geschaltet. Die Schlafkammer, in der Gus und Evchen seit vier Wochen in künstlicher Bewusstlosigkeit lagen, wurde auf maximale Abschirmung gebracht und hydraulisch gegen die Vibrationen abgefedert. Die drei wachen Besatzungsmitglieder saßen angeschnallt im Cockpit, die Pneumatik der Sessel glich 98 % der Erschütterungen aus. Dennoch musste die Besatzung der Dorset heftige Schläge hinnehmen, als der Explorer von den Gezeitenkräften des Planeten erfasst und deformiert wurde. Das Titanskelett des Explorers heulte und schrie, als Theresa das Schiff »hart am Wind« steuerte, es schräg zu den Gravitationslinien Saturns stellte, die sie auf einer messerscharfen Tangente durchkreuzte. Bei einer Geschwindigkeit von eins Komma zwei Millionen Kilometer pro Stunde stöhnten die Spanten der Dorset jedes Mal auf, wenn die Offizierin eine der Korrekturdüsen betätigte, um die Flugbahn um Bruchteile einer Bogensekunde herumzudrücken. Doch selbst im ungelenkten Geradeausflug wand sich das hundertsechzig Meter lange Schiff im Widerstreit der wirkenden Kräfte, die es erbarmungslos an seinem Schwerpunkt packten und mit der Wut eines Diskuswerfers in den leeren Raum hinausschleuderten.
Zum Zeitpunkt der größten Annäherung an das Ringsystem war es totenstill im Cockpit. Hatten sich die Piloten zuvor gegenseitig auf einige besonders fantastische Perspektiven innerhalb der gewaltigen Staubbahnen aufmerksam gemacht oder einander auf die Anzeigen der Automatik hingewiesen, so knirschte nun nur noch angespannteste Konzentration, während die Scanner des vorderen Gerätefeldes mehrere Millionen Staubpartikel und Felsbrocken pro Sekunde erfassten, ihre relative Bewegung errechneten und auf gefährliche Annäherungen abtasteten. Zweimal musste Theresa, die mit leicht geöffnetem Mund und zitternden Schweißperlen auf der Stirn die Anzeigen überwachte, die Dichte des Vorbeifluges zurücknehmen und den Tangentialpunkt um mehrere tausend