Opak. Matthias Falke

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Opak - Matthias Falke

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sie gerade noch einen faustgroßen Geröllbrocken, der als hingewischter Strich vorbeizuckte, ein versprengter Einzelgänger, der auf irregulärer Bahn durch die Peripherie der gleißenden Ringe zog. Eine Kollision hätte das Schiff zu Fetzen zermahlen. Doch auch der Automatik war es nicht möglich, allen Partikeln auszuweichen. Mehrmals schlugen winzige Staubteilchen von weniger als einem Milligramm Masse auf der äußeren Hülle der Dorset auf, wo sie verglühten und strontiumfarbene Kondensationsstreifen erzeugten. Jedes Mal hallte ein gischtendes Echo durch das dahinpeitschende Schiff.

      Eine Stunde nach der Durchquerung des Tangentialpunktes sank das Risiko einer Kollision auf unter 1 %. Theresa ging auf Stand-by, übergab an die Automatik und sank mit fleischigen Blicken auf ihrem Sessel zusammen. Japetus drehte sich in großer Entfernung vorüber. Die Heckmonitore zeigten das Bild des davonschwindenden Saturns, ein fahles Lackblau irisierte auf den Ringen, die schon wieder wie kompakte Flächen aussahen.

      Carlssen beugte sich über die Koje und küsste Theresa auf die bläulichen Lippen.

      »Sehr gute Arbeit.« Er flüsterte zärtlich in das braunrote Nest ihres Haars.

      »Ich werde dafür sorgen, dass du ein eigenes Kommando erhältst. Wie wäre es mit der Herschel?«

      Theresa hob noch einmal den Arm aus der Koje, zog ihn zu sich herab und presste die Stirn an seine. Ihr Blick war schon ohne Bewusstsein.

      »Gute Nacht.«

      Carlssen schloss die Luke aus geädertem Fiberglas und wartete, bis die Erste Offizierin eingeschlafen war. Er prüfte die Instrumente. Der Puls wurde auf zwanzig Schläge, die Atmung auf fünf Züge pro Minute heruntergefahren. Die Körpertemperatur sank auf siebenundzwanzig Grad. Nach einer halben Stunde hatte sich die Muskulatur völlig entspannt, wurde aber elektronisch massiert, um Rückbildungen zu vermeiden. Die Gehirnströme verebbten zu traumlosem Tiefschlaf. Er vergewisserte sich, dass das richtige Weckdatum programmiert war, dann verließ er das Schlafdeck, das automatisch verriegelt wurde.

      Auf der Brücke saß Silesio an seinem seitlichen Pult, das er für theoretische Arbeiten zu benutzen pflegte. Commander Carlssen trat hinter den Chefideologen und sah ihm über die Schulter zu, wie er ein Kapitel seines Textes über die Kontingenz redigierte, während er auf einem zweiten Monitor den Umbruch des Inhaltsverzeichnisses vornahm und auf einem dritten Zitate aus der Bordbibliothek nachschlug.

      »Schon eine neue Arbeitshypothese?«

      Er setzte sich auf Theresas Tastaturfeld, das von der Steuerung abgekoppelt war und auf Eingaben nicht reagierte. Die Dorset flog jetzt vollautomatisch. Die Scanner tasteten den Raum auf mögliche Objekte ab und im Fall einer drohenden Kollision würde der Autopilot die nötigen Ausweichmanöver veranlassen. Erst wenn diese zu irreversiblen Kursänderungen führen sollten, würde die Mannschaft aus dem Tiefschlaf geweckt. Das Logbuch wickelte den Funkverkehr mit der Leibniz, die inzwischen fast eine Lichtstunde entfernt war, und mit der Zentrale auf Luna ab, zu der die Signale mehr als zwei Stunden unterwegs waren.

      »Ich habe noch eine Erklärung abgefasst; willst du sie durchsehen, bevor ich sie an die Propagandaabteilung überspiele?«

      Silesio schloss seine Dateien. Zwei Monitore erloschen, auf dem dritten erschien die Pressemitteilung, die auf intelligente Art in schlichten Worten, die auf den durchschnittlichen Zeitungsleser berechnet waren, die bisherigen Beobachtungen unter optimistischen Prämissen zusammenfasste und die Mission der Dorset erläuterte. Das Opak wurde lediglich als extrem lichtschwaches Objekt angesprochen, die Kapriolen seiner oszillierenden Bahn wurden verschwiegen. Die Möglichkeit, dass es sich um ein Artefakt handeln könnte, wurde hingegen gar nicht erst angesprochen, um der schwelenden UFO-Panik jegliche Nahrung für hysterische Spekulationen zu entziehen. Carlssen sah das trockene Schriftstück durch und tippte dann sein Passwort unter die Sendegenehmigung. Eine Millisekunde später waren die paar Kilobyte verschlüsselt und übermittelt.

      »Und du willst wirklich wach bleiben?«

      Er hatte sich wieder erhoben und sah aus der Frontscheibe. Jupiter, dem sie sich jeden Tag um dreißig Millionen Kilometer näherten, war nach wie vor ein rostroter Punkt.

      »Ich wüsste nicht, wo ich bessere Arbeitsbedingungen hätte. Vier Wochen lang völlig ungestört, zudem noch die gesamten elektronischen Kapazitäten der Dorset zu meiner alleinigen Verfügung. Außerdem sind die Übertragungswerte allmählich so, dass sich der Zugriff auf die terrestrischen Bibliotheken wieder zu lohnen anfängt.« Er ließ beiläufig ein Verzeichnis über den Schirm scrollen, das die philosophischen Enzyklopädien anzeigte, die gerade für ihn von den zentralen Speichern auf Luna III geladen wurden.

      »Ich habe das einmal gemacht.« Carlssen wandte den Blick nicht von dem stoffleeren Panorama, dem sein Schiff lautlos entgegenstürzte. »Auf der Leibniz bin ich nach der Startphase noch wach geblieben. Ich habe gelesen und Musik gehört, Briefe nach Hause geschrieben, von denen ich wusste, dass sie erst nach Jahren beantwortet werden würden; ich bin durch die kilometerlangen menschenleeren Gänge gewandert und habe zugesehen, wie die automatischen Schirme die Wände mit den Reflexen ihrer selbstgenügsamen Protokolle bewarfen. Irgendwann war ich so ausgehöhlt von Einsamkeit und Verlassenheit, dass ich es nicht mehr aushielt. Da hab ich mich lieber in die Koje gepackt.«

      »Die Einsamkeit ist eine große Macht.« Silesio bestätigte den Bootbefehl für ein begriffsgeschichtliches Kompendium, das daraufhin in einen seiner persönlichen Kataloge kopiert wurde. Dann schaltet er den Monitor ab. »Vor allem hier draußen, wo es wenig sinnliche Anhaltspunkte gibt. Der menschliche Geist erträgt das nicht lange. Dabei bewegen wir uns innerhalb eines exakten Koordinatennetzes. Wir wissen genau, wohin wir fliegen. Ich frage mich ja immer noch, wie Magellan die hunderttägige Pazifikdurchquerung, bei der er ins völlige Nichts hinaussegelte, überstanden hat, ohne wahnsinnig zu werden.«

      »Der Christ hat immer noch seinen Gott, der hinter ihm steht.« Carlssen wischte ein gestisches »Oder so ähnlich« mit der Linken über die flüstergrünen Anzeigen.

      »Nietzsche, gewiss.«

      Carlssen fragte sich, warum Silesio sich die ganzen Bibliografien und Lexika herunterspulte, da er doch selbst ein wandelndes Nachschlagewerk war.

      »Als junger Mann war ich viel in den Bergen unterwegs, und das vorzusgweise allein. Die Zentralalpen oder der Hohe Kaukasus waren dabei die pathetische Kulisse meiner Grübeleien und ich berauschte mich an meiner zarathustrischen Einsamkeit. In den Semesterferien und zu Beginn meiner Laufbahn als Systemprogrammierer in der Abteilung für Künstliche Intelligenz bei Corporated Challenges machte ich mich frei, sowie es irgend ging, und fuhr in die Berge, um mir die Gedanken von der Seele zu laufen und hunderte und tausende von Stunden meines elektronischen Diktafons zu besprechen. Ich habe bis heute, obwohl das nach Erdzeit über achtzig Jahre her ist, nicht alle Aufzeichnungen transkribiert, geschweige alle Ideen und Projekte ausgeführt. Als ich Abteilungsleiter für KI wurde, war es damit so ziemlich vorbei, und wenn mir mal ein halber Sonntagnachmittag zur Verfügung stand und ich einen Spaziergang rund um das Firmengelände machte, träumte ich davon, wie Cervantes eingesperrt zu werden und jahrelang nur meinen literarischen und philosophischen Visionen leben zu können. Jetzt bin ich nach relativer Lebenszeit fast siebzig und ich gedenke, jede Möglichkeit, die sich bietet, zu erfassen und in otium cum dignitate zu verbringen.«

      »Ich brauche also kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mich für drei Wochen aufs Ohr lege? Wenn du es möchtest, kann ich dir aber auch Gesellschaft leisten.«

      »Ich weiß, dass es unhöflich ist, aber nichts ist mir im Leben zu entbehren leichter gefallen als Gesellschaft. Auch wenn es so – erträgliche ist wie Ihre, Commander Carlssen.«

      »Dann übergebe ich Ihnen hiermit das Kommando über

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