Flirmsse. Ursula Engel
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Flirmsse - Ursula Engel страница 3
Jovial wandte er sich jetzt an Barbara. „Sie parken auf meinem Parkplatz, aber heute geht das ausnahmsweise.“
Er ging schnell wieder, nicht, ohne Barbara kurz galant zuzuwinken.
Barbara lächelte zurück, erleichterte Dankbarkeit mimend. Wenn sie zu spät dran war, stellte sie sich oft auf Kinkelmüllers Parkplatz, weil er näher an der Station lag, als die anderen. Sie verachtete im Grunde seine Freundlichkeit, weil sie darin nur eine Unfähigkeit, sich durchzusetzen, und seine uneingestandene Hilflosigkeit sah. Sie versuchte einfach, ihn möglichst nicht zu beachten. Das machte ihr gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Schließlich war er immer höflich, irgendwie auch gutmütig.
Herr Tuschewski hatte sich inzwischen wieder beruhigt, weil Schwester Kim ihm sein Radio zurückgegeben hatte. Sie hatte es an sich genommen, weil es unbeaufsichtigt auf dem Gang gestanden und sie nicht gewusst hatte, wem es gehörte. Als Koreanerin hatte sie sich durch das Gemecker auf die Chinesen zunächst gar nicht angesprochen gefühlt, verstand aber endlich, dass Herr Tuschewski verzweifelt versucht hatte, durch seine verwirrten Vorwürfe wieder an sein Radio zu kommen.
Barbara ging in den Lichthof, wo die Gruppe stattfinden sollte.
„Ist heute wieder Gruppe?“, fragte Schwester Regina erstaunt oder ungläubig.
„Na, klar!“
Mit ihrer betont munteren Antwort versuchte Barbara, die Enttäuschung darüber zu verbergen, dass die Gruppe noch immer nicht zur Selbstverständlichkeit geworden war, nicht für die Schwestern, und dadurch erst recht nicht für die Patienten.
Langsam und umständlich wurden die Stühle im Lichthof so hingestellt, dass sie in etwa einen Kreis bildeten, der allerdings eher einem Ei mit verschiedenen Ausbuchtungen glich. Patienten und Schwestern suchten sich einen Sitzplatz. Die Gruppe war die einzige regelmäßige, von Barbara eingeführte Aktivität für die Patienten, die ihren Tag strukturieren und ihm Sinn und Bedeutung verleihen sollte. Barbara hoffte, mit den Patienten in ein Gespräch zu kommen, indem sie jeden einzeln mit seinem Namen ansprach und nach seinen Wünschen, Beschwerden oder seinem Befinden fragte.
Herr Leissner versteckte sich hinter einer Säule, von wo aus er nur ab und zu kurz neugierig hervorlugte. Barbara mochte ihn. Er erschien ihr wie ein „Halbstarker“ aus den 1950er Jahren: Jeans, Pulli, Lederjacke, kurze, zerzauste Haare und, wenn es ging, rauchend. Oder, da er stark berlinerte, wie der Prototyp des Kreuzberger Subproletariers, aufgewachsen in einem verwahrlosten Hinterhof, achtlos erzogen von einer alleinerziehenden Alkoholikerin.
Barbara fühlte sich angesprochen von seinem freundlich-fragend, gedehnt gesungenem „Loohoos, Gühüntzeheli“. Danach zog er sich schnell wieder hinter die Säule zurück, sodass sie ihm nicht antworten, sondern nur einen flüchtigen Blick zuwerfen konnte. Sanft und sehr vorsichtig hatte er es sekundenlang geschafft, eine Beziehung zu ihr aufzunehmen. Sie hörte nach dieser fast unmerklichen Kontaktaufnahme wie aus weiter Ferne sein hell auflachendes Kichern, das, beziehungslos und ohne Halt zu finden, irgendwo im Weltraum zu versinken schien. Sie sah auch sein glückliches Grinsen, als er gierig seine Zigarette aussaugte.
‚Wie überrascht und zufrieden er ist, weil er eine Beziehung zu mir aufgenommen hat‘, dachte sie. ‚Oder bin ich das nur selbst?‘
Seine zerbrechliche Zartheit machte es unvorstellbar, dass er noch vor kurzem mit kraftvoller Aggression einen Sessel zerstört haben sollte, was sich jetzt so harmlos anfühlte, wie die Ziellosigkeit eines kleinen Kindes, das achtlos sein Spielzeug zu Boden fallen lässt.
Mit dem Kopf nickend wie ein pickendes Huhn stakste Herr Leissner Richtung Tür, um die Station zu verlassen. Er brauchte viel Abstand und beschäftigte sich oft damit, durch eine Tür rein- und rauszugehen, hin und her, den ganzen Tag lang. Dabei wirkte er aufmerksam und konzentriert. Barbara vermutete, dass er auf diese Weise mit seinem inneren Problem beschäftigt war: Was war innen, was außen, was war in ihm, was außerhalb von ihm, was gehörte zu ihm, was nicht?
Barbara zwang sich, seine Aggressivität nicht zu vergessen. Zu seiner ersten Einlieferung in die Psychiatrie war es gekommen, nachdem er eines Tages alle Möbel seiner Mutter aus einem Fenster ihrer gemeinsamen Wohnung geschmissen hatte. Als Barbara ihn nach dem Grund gefragt hatte, hatte seine knappe, übelgelaunte Antwort gelautet: „Die hatte mir mein Auto weggenommen!“
Danach hatte er schnell den Raum verlassen.
„Die olle Lehmann“, nannte er seine Mutter, obwohl sie gar nicht Lehmann hieß. Diese distanzierte Fremdheit oder gar Verwirrung ihres erwachsenen Sohnes beachtete die Mutter nicht, als wenn sie es gar nicht bemerken würde. Wenn sie ihn besuchte, fütterte sie ihn gerne wie ein Kleinkind, was er sich meistens mit angewidertem Gesichtsausdruck gefallen ließ.
Er redete wenig, sprach nicht über sich oder seine Vergangenheit. So blieb weitgehend unklar, was in ihm vor sich ging. Seine vorsichtige, freundlichfragende Kontaktaufnahme schien Barbara bedeutsam, denn Herr Leissner war ihr ansonsten eher durch seine Aggressivität aufgefallen. Bedrohlich wurde er vor allem in Situationen, die ihm selber Angst machten, was leicht geschehen konnte, etwa in unbekannter Umgebung oder wenn etwas auf der Station nicht der üblichen Routine entsprach. Er machte dann als großer, kräftiger Mann gewöhnlich allen Angst.
Schwester Regina war einmal mit ihm eine Jeans kaufen gewesen. Im Laden hatte Herr Leissner offenbar große Angst vor der unbekannten Situation bekommen. Er drückte sich gegen eine Wand, setze sein grimmigstes Gesicht auf, fixierte die Verkäuferinnen mit starrem Blick und sagte laut und deutlich: „Ich bring euch alle um!“
Zitternd zogen sich die Verkäuferinnen zurück, versteckten sich in einem hinteren Zimmer und trauten sich nicht mehr, Herrn Leissner und mit ihm Schwester Regina zu bedienen. Die beiden kamen unverrichteter Dinge zur Station zurück, Herr Leissner gänzlich entspannt, weil er in die vertraute Umgebung zurückkehrte, Schwester Regina eher ärgerlich, weil sie wusste, dass sie bald wieder mit ihm einkaufen gehen musste.
Nur Schwester Kim konnte mit Herrn Leissner in angespannten Situationen gut umgehen. Sie redete ihn dann mit seinem Vornamen an, näherte sich ihm beruhigend wie eine gute Mutter und lenkte seine Aufmerksamkeit auf irgendein harmloses Problem, etwa „Dein Hosenträger ist ja verdreht.“ Herr Leissner wirkte dann erstaunt, ließ Schwester Kim so nahe an sich heran, dass sie den Hosenträger richten konnte, kicherte zufrieden, vergaß das Bedrohliche und stakste Richtung Tür, um seiner gewohnten Beschäftigung nachzugehen.
In der Regel antwortete Herr Leissner nicht, wenn man ihn ansprach, sodass man nichts mit ihm klären konnte. Einmal hatte Barbara ihm eine kleine Torte mitgebracht, weil er eine schwierige Operation am Fuß tapfer überstanden hatte und sie ihm Mut machen wollte. Sie hatte ihm die Torte auf seinen Nachttisch gestellt, war in die Küche gegangen, um einen Teller und eine Gabel zu holen. Als sie wiederkam, war die Torte verschwunden. Sie suchte sie überall: im Zimmer, bei den anderen Patienten, schaute auch aus dem Fenster, ob die Torte vielleicht den Weg so vieler Möbel gegangen war. Herr Leissner beobachtete sie interessiert, aber stumm und antwortete nicht auf ihre Fragen. Die Suche war erfolglos geblieben.
Die Gruppe verlief, ohne dass Barbara sich um weitere Besonderheiten kümmern konnte. Herr Koch wiederholte