Flirmsse. Ursula Engel
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„Dann bringen Sie die Tasse eben wieder zurück, damit ist die Sache erledigt.“
Atmosphärisch blieb aber etwas unerledigt.
Jeden Patienten sprach Barbara mit seinem Namen an, stellte ihm eine Frage, um ihn zum Reden zu ermuntern. „Wie geht es Ihnen heute?“ oder „Und was haben Sie heute vor?“
Die Antworten waren spärlich. „Gut.“ -- „Nichts.“
Barbara fühlte sich nutzlos, weil kein Gespräch entstand, kein Problem an sie herangetragen wurde. Von Gedanken, Wünschen oder Problemen erfuhr sie nichts. Dennoch wurde sie nach der Gruppe sehr müde. Sie trank einen Kaffee im Schwesternzimmer und zog sich dann in ihr eigenes Zimmer zurück. Sie wollte lieber alleine sein.
Aber Herr Papst folgte ihr. Ohne ein Wort zu sagen nahm er die Gitarre, schrammelte darauf herum und sang, gänzlich unharmonisch, zwei Zeilen eines alten Schlagers.
„Bella, bella, bella Marie, bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh.“
Er machte ein lachendes Gesicht, ohne zu lachen, ging dann wieder, ohne direkten Kontakt zu Barbara aufgenommen zu haben.
Barbara saß erschöpft da, stützte ihren Kopf auf ihre Hände und versuchte, zu sich zu kommen. Aber schon riss Frau Kunert die Tür auf, steckte kurz ihren Kopf herein, brüllte böse, vorwurfsvoll und mit hasserfüllter Miene: „Alte Fick-Fotze!“ und knallte laut die Tür wieder zu.
Barbara fühlte sich konfus, überfordert mit all den wilden Mitteilungen, die Patienten ihr machten und mit denen sie ihr etwas Wichtiges mitteilen wollten. Bloß was? Einen Sinn konnte sie in den gesprochenen Worten zumeist nicht unmittelbar verstehen. Manches höchstens erahnen.
So nahm sie an, dass Herr Papst eine Liebesbeziehung zu ihr fantasierte. Sie hatten darüber geredet, er hatte für sich ein Ergebnis aus ihrem Gespräch gezogen: „Liebe ist erlaubt, aber anfassen ist verboten. Selbst für einen Papst.“
Er hatte das akzeptiert, aber traurig gelächelt. In seinem feinen Witz und der resignierten Wehmut glaubte Barbara, etwas von der Differenziertheit einer Persönlichkeit zu spüren, die Herr Papst früher gewesen sein musste. Er hatte als Kürschner erfolgreich einen großen Laden in einer renommierten Gegend geführt. Er war sicher an kultivierte künstlerische Darbietungen gewöhnt gewesen, doch in der stereotypen Wiederholung der immer gleichen zwei Liedzeilen eines bekannten, kitschigen Schlagers, die er in infantiler Weise vortrug, konnte Barbara nichts mehr davon entdecken. Herr Papst nahm keinerlei Rücksicht auf die jeweilige Situation, setzte sich mit seiner Vorführung stets rücksichtslos durch, ohne sich durch Bitten oder Ermahnungen aufhalten zu lassen. Dieser erschreckende Abbau einer reichen und differenzierten Persönlichkeit, die ihr wie eine holzschnittartige Vereinfachung vorkam, machte Barbara traurig.
Sie fühlte sich sehr allein, fand es unerträglich, auf der Station kein Gegenüber zu finden, mit dem sie auf unkomplizierte Art kommunizieren konnte, ohne über die Bedeutung des Gesagten rätseln zu müssen und ohne heftigen, unverständlichen Affekten ausgesetzt zu sein.
Also setzte sie eine wichtige Miene auf und eilte mit geschäftigem Gang, um nur ja von niemandem angesprochen zu werden, zu ihrem Kollegen Stefan, von dem sie wusste, dass er sich für Musik interessierte. Dort begann sie ein Gespräch über etwas ganz Anderes, etwas, was nichts mit Patienten zu tun hatte: Schostakowitschs zweites Klaviertrio, Opus 67.
„Hörst du nicht das Phrygisch-Alterierte darin, also die sogenannte jüdische Tonleiter, die im Finale so deutlich ist?“, fragte Stefan, der erfreut auf das Gesprächsangebot einging, weil er eigentlich Befundberichte für die Krankenkasse schreiben musste.
„Ich habe aber noch nirgends irgendetwas darüber gelesen“, antwortete sie zweifelnd.
„Du kannst das auch nicht lesen, du musst das hören“, ereiferte sich Stefan. „Schostakowitsch hat sich damals, also 1944, als die Juden in der Sowjetunion verfolgt und ermordet wurden, mit ihnen solidarisiert, indem er Elemente jiddischer Musik verwendete. Das wird erzählt in den kürzlich erschienen ‚Memoiren des Dimitri Schostakowitsch‘, die allerdings umstritten sind, weil nicht klar ist, wie authentisch sie sind.“
„Das wusste ich gar nicht, ich dachte, Schostakowitsch wäre ein staatlich anerkannter, von Stalin geehrter Komponist gewesen.“
Barbara erholte sich durch das Gespräch, vergaß für eine kurze Weile die Patienten, ging dann zur Station zurück und wandte sich ihnen wieder zu.
Als sie abends nach Hause kam, ließ sie sich auf ihr Sofa fallen und schloss die Augen. Wie immer hörte sie den Fernseher ihres Nachbarn von unten, ein offenbar schwerhöriger, emeritierter Linguistik-Professor, der sich gerne den ganzen Tag sehr laut irgendeine Sexsendung ansah. Sie hörte ein stetig sich steigerndes Gestöhne, „Huahah-iihi“, gipfelnd in einem erschöpften Jauchzen, dann Dingel-dingel-dong-dong: Werbung: Zahnpasta, Waschpulver, Versicherung, Katzenfutter, Fertigmahlzeit. Dann wieder: „Huaha-iihi, Huahaa-iihi“, Dingel-dingel-dong-dong: Hundefutter Waschpulver, Salz, Spülmittel, „Huhahaa-iihi, Huahaa-iihi“, Dingel-dingel-dong-dong. Es ging endlos so weiter, wie sie aus Erfahrung wusste.
Sie raffte sich auf, ging eine Treppe runter und klingelte bei dem Professor. Er stellte den Fernseher ab, öffnete die Tür und bat sie höflich herein. Sie beschwerte sich vorsichtig, woraufhin er freundlich für Abhilfe zu sorgen versprach. Erleichtert ging sie wieder nach oben in ihre Wohnung. Die Wohnungstür war noch nicht geschlossen, da hörte sie es wieder, dieses Mal geringfügig leiser. Dingel-dingel-dong-dong, „Huahaa-iihi, Huahaa-iihi“.
Sie resignierte und entschied sich, selber Musik zu hören. Sie versuchte, das Phrygisch-Alterierte in Schostakowitschs Finale des 2. Klaviertrios zu hören und war zufrieden, als es ihr gelang.
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