Bilanz einer Lüge. Christopher Stahl

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Bilanz einer Lüge - Christopher Stahl

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verteilt. Obwohl man ihnen allen die nationalsozialistische Ideologie in der gleichen Nationalpolitischen Lehranstalt, kurz NAPOLA genannt, eingebläut hatte, existierten die ehemaligen Bindeglieder nicht mehr. Im Gegensatz zu seinen Kameraden glaubte Bernd schon lange nicht mehr an das, was er einmal verherrlicht hatte. Dabei waren er und seine Eltern stolz darauf gewesen, als er 1938 im Alter von 16 Jahren die Aufnahmeprüfung mit Bravour bestanden hatte. Arische Abstammung, so genannte Erbgesundheit und volle körperliche Leistungsfähigkeit waren die Grundvoraussetzungen gewesen, um überhaupt zugelassen zu werden. Bei der Aufnahmeprüfung hatte er zudem mühelos die geforderten Eigenschaften wie Mut, Durchhaltevermögen, Tapferkeit, Fähigkeit zur Einordnung, aber auch zur Übernahme von Führungsaufgaben, unter Beweis stellen können. Sein damaliger Jungmann-Gruppenführer, er war 12 Jahre älter als Bernd, hatte ihn unter seine Fittiche genommen. Schon früh der NSDAP beigetreten, waren Führer, Volk und Vaterland sein Universum. Er war das, was man einen Hundertprozentigen nannte. Ein Foto in seinem Spind dokumentierte, dass er Adolf Hitler schon persönlich begegnet und von diesem durch einen Handschlag geadelt worden war. Bernd Wegener hatte damals zu ihm aufgesehen – er war sein Idol.

      Die einstige Jungmann-Gruppe der NAPOLA Oranienstein, in Dietz an der Lahn, blieb auch später als Flak-Einheit zusammen. Der Gruppenführer war inzwischen zum SS-Obersturmführer befördert worden und führte sie weiterhin.

      Doch mittlerweile glaubte Bernd nicht mehr an die, die er einst glühend verehrt hatte. Und so war inzwischen das Selbstverständnis der gemeinsamen Gesinnung verlogenen Kameradschaftsfloskeln gewichen. Es entging ihm auch nicht, dass sie ihn mehr und mehr mit Skepsis beobachteten. Er ahnte, was sich in ihren verwirrten Köpfen abspielte: „Er wird doch nicht zum Vaterlandsverräter? Er wird doch nicht Fahnenflucht begehen?” Bernd konnte ihnen nicht mehr trauen. Vor allem nicht seinem ehemaligen Idol,seinem Gruppenführer. Dessen unerschütterlicher Glaube an den Führer und den Endsieg hatte inzwischen zwanghafte Züge angenommen. Dabei kamen die Schreckensmeldungen, die ihnen die Augen hätten öffnen müssen, doch auch in ihrer Stellung an. So hatte es am 27. Februar bei dem schwersten Luftangriff auf Bernds Heimatstadt Mainz 1.200 Tote gegeben und 33.000 Menschen waren obdachlos geworden. Die Sorge um seine Angehörigen bedrückte ihn mehr, als er es zeigen durfte. Mit wem sollte er darüber reden?

      Am 2. März hatten amerikanische Einheiten das Sternenbanner auf der Porta Nigra in Trier gehisst. Vierzehnjährige Kinder hatten sich bei ihnen gemeldet. Man hatte sie zur Wehrmacht eingezogen. Mit Panzerabwehrkanonen ausgerüstet und zur Flak abkommandiert, hatten sie die Parolen vom Endsieg und Hitlers „Verbrannte Erde”-Befehl nachgeplappert. Sie hatten die Nachricht bejubelt, dass am 18. März Wehrmachtskommandos sämtliche Brücken im Raum Mainz-Wiesbaden gesprengt hatten.

      Gestern war die Nachricht durchgesickert, dass sich die Amerikaner von Norden aus dem Raum Gießen kommend nach Süden fortbewegten – die Zange schloss sich. In der Nacht zuvor hatte sich auch noch eine Pionier-Einheit abgesetzt, die den Panzern Widerstand entgegensetzen sollte. Der leitende Kampfkommandant von Friedberg, Hauptmann Wölk, befand sich, wie er selbst gesagt hatte, „in völliger Unkenntnis über die Lage Friedbergs.”

      In dieser Lage saß der Unterscharführer der Waffen-SS Bernd Wegner von der 17. SS-Panzergrenadier-Division „Götz von Berlichingen” auf einem Randstein am Ostrand von Friedberg. Er trug seinen Kampfanzug mit dem Tarnmuster. Neben sich hatte er den mit einem Tarnnetz versehenen Stahlhelm und seine Maschinenpistole MP 40 abgelegt. Bedächtig öffnete er den Umschlag, dessen Absenderadresse die seiner Eltern war. Hatte seine Verlobte etwa in Mainz Zuflucht gesucht? So unvernünftig wird sie doch nicht gewesen sein? Er entfaltete das mit Bleistift beschriebene Papier. Tränen hatten darauf ihre Spuren hinterlassen.

       Mein Herzallerliebster,

       ich weiß, daß Du Dir Sorgen um uns machst. Das mußt Du nicht. Für uns ist der schreckliche Krieg vorbei. Keine Angst mehr vor Spitzeln, keine Sirenen, keine Bombennächte mehr, in denen wir in den Radonstollen im Kauzenberg Zuflucht suchen. Die Amerikaner haben Bad Kreuznach eingenommen. Die Parteibonzen sind geflüchtet. Als erster Justus Heber von nebenan. Vorher hat er noch Uniform, Bilder und Abzeichen in seinem Garten hinter dem Haus verbrannt und vergraben. Ich habe das Fenster geöffnet und ihm zugerufen: „Das ist jetzt übrig geblieben von deinem 1000-jährigen Wahn. Dieser Aschhaufen.” Er hat mich nur blöde angesehen und ist dann verschwunden.

       Ich sitze beim Schreiben dieses Briefes auf unserem Lieblingsplatz an der Nahe. Ruhig ist es und endlich friedlich. Unser Kleiner (oder unsere Kleine?) bewegt sich – ich soll Dich schön grüßen, heißt das. Doktor Brand ist zufrieden mit uns. Schade, daß meine Eltern das nicht mehr erleben können. Ich hoffe, daß Deine Eltern die Bombenangriffe überstanden haben. Falls dieser Brief Dich aus irgendwelchen Gründen nicht erreicht, soll er an Deine Eltern zurückgeschickt werden. Ich denke, daß die Postzustellung in Mainz eher funktioniert, als in Bad Kreuznach.

       Ich wünsche so sehr und bete dafür, daß es auch für Dich bald vorbei ist und Du bei uns sein kannst. Halte durch, begib dich nicht mehr in Gefahr. Entschuldige, daß ich das so schreibe. Ich weiß, es ist naiv – aber wo kämen wir hin, ohne unsere Wunschträume.

       Paß auf Dich auf, mein geliebter Bald-Ehemann. Wir warten auf Dich. Gott gebe, daß es nicht zu lange dauert. In Gedanken bin ich immer bei Dir – denke an unseren Stern. Wie eine Laterne soll er Dich überall hin begleiten und Dir den Weg zu uns leuchten.

       Deine Dich über alles liebende Bald-Ehefrau.

      Als ob er die Verfasserin damit streicheln würde, faltete er den Brief mit einer zärtlichen Bewegung wieder zusammen. Er führte ihn an seine Lippen und bildete sich ein, ihren lieblichen Duft in sich aufzunehmen. Dann schob er ihn in die linke Außentasche seines Kampfanzuges. Dabei bemerkte er das Flugblatt, welches er gestern heimlich eingesteckt hatte. Zu Tausenden waren sie abgeworfen worden, ohne dass die Einheit die geringste Chance gehabt hätte, das Flugzeug mit ihrer Flak auch nur zu irritieren. Er nahm es heraus und sah sich vorsichtig um. Weit und breit war niemand zu sehen. Die Aussage des Flugblattes war ebenso eindeutig wie glaubwürdig:

      Auf der Rückseite des Flugblattes gab es detaillierte Anweisungen zur Übergabe. Selbst die anständige Behandlung der Kriegsgefangenen wurde in mehreren Punkten glaubwürdig und beruhigend ausgeführt. Sollte er nicht doch noch einmal versuchen, mitseinen Kameraden zu reden? Nein! Denen konnte und durfte er nicht mehr trauen. Er musste damit rechnen, dass sie ihn sofort festnehmen und den Kettenhunden vom Feldjägerkommando überstellen würden. Diese Einheit funktionierte nämlich, trotz – oder sogar wegen – zunehmender Auflösungserscheinungen immer noch mit erschreckender Zuverlässigkeit.

      In seine Gedanken mischte sich plötzlich ein Geräusch, das er schon seit Tagen mit einer Mischung aus Angst und Freude erwartete: Das Gerassel schwerer, rollender Ketten und das Brummen starker Motoren – feindliche Panzer. Noch bevor er seinen Stahlhelm aufsetzen und die MP umhängen konnte, erschien ein Jeep, fuhr geradewegs auf ihn zu und stoppte vor ihm. Er war besetzt mit zwei Offizieren, beide lediglich mit einer Handfeuerwaffe ausgestattet. Ihre Helme hatten sie lässig ins Genick geschoben. Sie vermittelten den Anschein, als würden sie sich auf einer Ausflugsfahrt befinden.

      Der Major auf dem Beifahrersitz sprang mit einem Satz aus dem Fahrzeug und rief: „Hey, I’m Major Smith of the sixth US-Division. In a few minutes onehundredeighteen tanks will be approaching Friedberg. Hondertaktzehn Panzer, du verstehn?”

      So unspektakulär hatte sich Bernd seinen ersten direkten Kontakt mit den Amis und seine Gefangennahme nun wirklich nicht vorgestellt. Er war perplex. In einigen Minuten sollten 118 Panzer Friedberg erreichen? Er schluckte und räusperte sich, bevor er mit rauer Stimme antwortete: „Yes, of course, I understand.”

      Dann

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